Die niederländische Jungfrau - Roman
Mund stets eine untergeordnete Rolle gespielt hatten, beherrschten jetzt sein Gesicht. Sie konnten nicht verhehlen, daß er sich nächtelang hatte verstecken müssen. Er setzte seinen Hut ab und sah sich im Saal um, betrachtete die neue Tapete ohne die Gemälde und die Kreise, die die Maler auf das Parkett gepinselt hatten.
»Hier ist es auch anders«, sagte er. »Alles ist anders geworden.«
Egon seufzte tief. Sein Unterricht war unterbrochen worden.
»Wir haben Ordnung geschaffen«, sagte er. »Schau.«
Er deutete auf die Kreise, die auf den Boden gemalt worden waren. Der Otter nickte, er erkannte sie zwar, aber wozu das alles. Er nahm vorsichtig Platz auf dem einzigen Stuhl, der im Saal noch übriggeblieben war, und faltete die Hände, sie zitterten.
»Ich schulde dir Dank«, sagte Egon. »Das Buch, von dem du mir erzählt hast, habe ich gefunden. Thibault. Du hattest das Original noch nie gesehen?«
Der Otter, erstarrt, rührte das Buch nicht an, Egon ließ nicht locker. Er beschloß, die Zwillinge wieder für eine Demonstration einzuspannen wie die des Otters seinerzeit, nur besser. Hastig gestikulierend lief er um sie herum.
»Es zeigt sich«, sagte er, »daß es falsch ist, in Hälften zu denken. Zwei Hälften einer Bahn, zwei Halbkreise: falsch. Ein geteilter Mensch ist zum Scheitern verurteilt. Thibaults Kreise überschneiden sich, bleiben aber ganz und bewegen sich mit dem Individuum. Solange man denKreis des anderen beobachtet, ist man sicher. Die Fechter stehen eine Schrittlänge auseinander …«
»Wie bei der Mensur!« rief Friedrich, was ihm eine schallende Ohrfeige eintrug.
»Von wegen«, sagte Egon, »ich spreche von der Spanischen Schule. Die Meister der Destreza, die immer unversehrt blieben, so oft sie auch in den Kampf zogen. Stellt euch vor, in jener Zeit starben tagtäglich mehrere Männer im Duell, sie jedoch zogen sich noch nicht einmal die kleinste Schramme zu. Man verstand nicht, wie so etwas möglich war, Geschichten kursierten, aber das Wissen der Destreza blieb geheim. Zum Schluß wollte keiner sie mehr herausfordern. So gefürchtet zu werden, dahin müssen wir auch kommen! Egal ob man mit einem Rapier kämpft oder mit einem Panzer, es geht um den Mythos der Unangreifbarkeit.«
Er schob Friedrich beiseite und tickte herausfordernd gegen Siegberts Florett, dann breitete er einladend die Arme aus. Siegbert senkte seine Waffe, fiel aus, landete zu seiner Verblüffung aber einen halben Meter neben der Flanke des Meisters. Noch ein Tick. Siegbert reagierte rasend schnell, und trotzdem landete seine Waffe an der falschen Stelle, obwohl er eindeutig die richtige Entscheidung getroffen und hoch gezielt hatte. Nicht zu fassen. Ich mußte auf die Füße des Meisters achten, mit denen trickste er, doch beim dritten Manöver machte er einen Schritt, den ich nie gemacht hätte, und wieder verfehlte Siegbert sein Ziel. Langsam legte der Meister seinem Gegner die Klinge an den Hals. Der Otter sprang empört auf.
»Was tust du den Kindern an? Schau sie dir an, du hast ihnen alle Lust am Sport genommen. Es würde mich nichtwundern, wenn sie in Zukunft keine Waffe mehr in die Hand nehmen wollen.«
»Im Gegenteil.« Egon gab Friedrich die Waffe zurück. »Diese Jungen führen eine neue Generation von Kämpfern an. Als Zwillinge können sie das beste Beispiel abgeben, auch Thibaults Figuren sind immer die gleichen. Vielleicht nehme ich sogar noch mehr Zwillinge in die Lehre. Ich habe gehofft, Sie als Arzt könnten mir welche besorgen, haben Sie keine Zwillinge in Ihrer Praxis?«
Der Otter sank kopfschüttelnd auf seinen Stuhl zurück. Egon fragte nicht weiter, er sprach mit sich selbst. Lange genug hatte er das Wissen verschwiegen, das er unter dem Arm nach Hause getragen hatte. Während des Großreinemachens hatte er das Buch kurz in seinem Studierzimmer warten lassen, wie man das mit unerwartetem Besuch aus gutem Hause tut, doch jetzt, wo das Haus fertig war, fehlten die interessierten Freunde, um den Gast zu unterhalten. Der Einfachheit halber hatte er vergessen, daß er in der Ferne sehr wohl einen Freund hatte, einen, der ihn als erster auf Thibault aufmerksam gemacht hatte. Meinen Vater, den Feigling.
»Unverletzbare Soldaten«, sagte er, »hat es immer schon gegeben. Junge Männer, wie ich sie an der Front gesehen habe. Die nie getroffen wurden und sich über den Tod lustig machten. Doch die wußten selbst nicht, wie sie zu dieser Gabe kamen, sie besaßen sie von Natur aus. Thibaults
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