Die niederländische Jungfrau - Roman
ein Pflasterkleber, der die Spuren des Lebens verdeckte.
Beide Männer zündeten sich eine Zigarre an. Zwischen ihnen saßen die Studenten, beschwert von einem Datum aus einer fernen Vergangenheit. Januar 1915. Einige waren da noch nicht mal geboren. Sie zogen ab, als Leni und ich den Abwasch machten. Wir schauten durchs Fenster und sahen, wie von Bötticher dem Otter die Hand drückte, die Paukanten hielten ihre verbundenen Köpfe leicht gesenkt. Der Otter schloß die Tür des Busses, alle Fahrzeuge starteten gleichzeitig. Carnevale . Leni dachte dasselbe. Das war’s, sagte sie, der Zirkus fährt weiter. Genau in dem Augenblick tauchten aus der Gegenrichtung zwei Scheinwerfer auf. Heinz und die Jungen waren zu früh vom Jahrmarkt zurückgekehrt. Leni nahm sich das sehr zu Herzen, rief, alles sei in die Hose gegangen. Ich wollte sagen, das Essen sei wunderbar gewesen, doch das meinte sie nicht, sie meinte, daß die Zwillinge von der Rückbank aus sehnsüchtig zur Mensurkarawane hinüberschauten, die mit brummenden Motoren stehengeblieben war und wartete, daß die Durchfahrt frei würde. Die Tischwäsche unter dem Arm, lief sie zur Eingangstür und rief, Heinz sei ein blöder Ochse, weil er so früh zurückgekommen sei. Heinz setzte den Wagen zurück, die DKWs fuhren an. Mit ein bißchen Glück würden die Säbelfechter nicht erkennen, was los war. Leni ließ die Tischdecke flattern wie bei einem Waffenstillstand, und es fiel etwas heraus. Sie sah es ebenfalls. Laß liegen, dachte ich. Die beiden sollen das unter sich ausmachen, die Männer von 1915. Doch sie hob das Foto auf.
»Der Chef und irgendein anderer Kerl«, sagte sie, als sie in die Küche zurückkam. Sie legte das Foto auf den Tisch und sah mich fragend an.
»Dieser Kerl ist mein Vater«, sagte ich so lässig wie möglich. »Bei dem anderen Mann bin ich mir nicht sicher. Von Bötticher sagt, er ist es nicht.«
»Dann ist dein Vater ein flotter Mann. Und von Bötticher kann sagen, was er will, natürlich ist er das. Seine Haltung, seine Figur – ohne Frage, das ist der Chef. Natürlich vor langer Zeit.«
Plötzlich füllten sich meine Augen mit Tränen, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich konnte sie nicht wischen, denn meine Hände steckten im Seifenwasser. Ich empfand keine Sympathie für meine eigenen Tränen, im Gegensatz zu vielen anderen Frauen, lieber schluckte ich sie hinunter. Aus irgendeinem Grund gelang es mir nicht. Leni sah ihre Chance gekommen und begann, mich mit einer Hand zu trösten, die sich wie glühendes Eisen anfühlte. Spukfrau. Sieh mich an, sagte sie immer wieder, und nur deswegen kippte ich nicht um.
»Vor mir kannst du nichts verbergen«, sagte sie. »Ich versteh es ja, er hat einen gewissen Charme. Aber laß dich nicht mitreißen. Du wirst mir dein ganzes Leben lang dankbar sein, daß ich dich gewarnt habe.«
In dieser Nacht träumte ich von Helene Mayer. Sie stand auf dem olympischen Podest, ich saß auf der Tribüne zwischen meinem Vater und von Bötticher. Schau, sie brennt, sagte von Bötticher. Wir nickten, denn tatsächlich, aus Mayers lorbeerumkränztem Kopf züngelten Flammen. Sieist die olympische Fackel, sagte er. Nein, sagte mein Vater, sie ist die heilige Jungfrau. Und er schlug wahrhaftig ein Kreuz, mein Vater! Mayer wuchs mit dem auflodernden Feuer in die Höhe, bis sie sich wie eine riesige Göttin nur vorzubeugen brauchte, um bis zur Tribüne zu reichen und mich zu berühren, mit einer Hand aus rotglühendem Eisen.
Als ich aufwachte, war es noch dunkel. Der Vorhang flatterte im offenen Fenster, als segelte das Haus auf einer Flutwelle dahin. Wer gewöhnt ist, zum regelmäßigen Atem der Stadt einzuschlafen, schreckt auf vom Lärm ländlicher Nächte. Wenn die Menschen sich still verhalten, klingt alles lauter: Windstöße, Regentropfen, ein Ast, der gegen die Läden schwingt. Ich stand auf, um das Fenster zu schließen. In der Nähe heulte eine Eule, wehmütiger ging es nicht. Ich betrachtete meine Hand auf der Fensterbank; im Mondlicht wie die Hand einer Toten. Alles war anders, gehörte jemand anderem. Es wäre besser, Raeren zu verlassen, mich von verschwommenen Gefühlen und Erscheinungen zu verabschieden (wären es nur Geister, die verschwanden wenigstens, sobald man das Licht anmachte) und mit dem Zug zurück zu meinem alten, nicht-verliebten Ich zu fahren. Seit mein Vater mir nachgewinkt hatte, hatte sich alles verändert, sogar er selbst, auf einmal war er zu einem Feigling geworden. Ich
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