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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Feiglingen.«
    Ein unerwarteter Ausfall. Was tat ich hier noch? Ungebetener Gast, untaugliche Arzthelferin, Kartoffelfechterin. Ich wollte aufstehen, aber der Otter legte mir die Hand auf die Schulter.
    »Nehmen Sie sich das nicht zu Herzen, er meint es nicht persönlich«, flüsterte er. »Sagen Sie mal, Ihr Vater, Arzt aus Maastricht … War er nicht dieser Niederländer, der Egon gepflegt hat, während des Kriegs? Der kam jedenfalls auch aus Maastricht. Darüber kursieren Geschichten, aber von ihm selbst erfährt man ja nie etwas. Ein Buch mit sieben Siegeln.«
    Er sah mich abwartend an. Der neugierige Professor. Wäre er Hausarzt geblieben, so hätte sich diese Neugier abgekühlt. Hausärzte werden täglich, bis zum Gehtnichtmehr, mit Lebensgeschichten überfüttert. Manche schreiben sie nieder, andere verlieren ihr Interesse an Erlebnissen und vertiefen sich in Fakten, wie mein Vater. Er durfte es gern wissen. Von Bötticher würde seinen Ausfall noch bereuen. Meine Riposten waren hart.
    »Sie haben sich im Krieg gekannt. Ich habe ein Foto aus der Zeit.«
    »Und was ist da drauf?«
    »Ich kann es Ihnen zeigen. Ich habe es mitgenommen, es liegt oben.«
    Kurz darauf stand ich in meinem Zimmer, die Waffe meiner Satisfaktion in der Hand. Mein lieber Vater, noch so jung. Daneben die Totenkopfmütze, ohne jeden Zweifel. Doch das Gesicht war und blieb verschwommen. Das mußte genügen. Jetzt nicht mehr gezaudert. Ich rannte die Treppe hinunter, in großen Sätzen und mit Schwung um die Säulen. Vor dem Fechtsaal bremste ich ab. Beherrscht ging ich hinein. Der Otter hatte seinen Teller mit rührender Hingabe geleert, nur von der Fleischsoße war eine dünne Spur nachgeblieben. Ich legte das Foto daneben.
    »Das ist mein Vater, und das Herr von Bötticher.«
    Der Otter wischte sich die Hände nachdrücklich ab, bevor er das Foto aufnahm. »Ach! Wirklich! Januar 1915. Das ist ein Leibhusar, ganz sicher. Aber das Gesicht ist unscharf. Herr von Bötticher! Sind Sie das?«
    Mir schlug das Herz bis zum Hals. Das Foto ging von Hand zu Hand. Von Bötticher hatte sich gerade einen Bissen in den Mund geschoben, als er es zu Gesicht bekam.
    »Sind Sie das, Herr von Bötticher? Während des Kriegs?«
    Alle hörten auf zu essen, Messer wurden abgelegt. Die Studenten neben von Bötticher schauten über seine Schulter. Seine Mütze, das einzige, was ihn dem Mann auf demFoto ähnlich machte, hatte er fürs Essen abgesetzt. Ich sah, wie er böse wurde. Er kaute immer langsamer, wie eine Maschine, die langsam ausläuft.
    »Das bin ich nicht.«
    »Es ist ein Leibhusar«, sagte der Otter störrisch. »Und der andere Bursche, das ist der Vater von dem Mädchen hier. 1915.«
    »Das bin ich nicht«, wiederholte von Bötticher.

9
    Wer war Egon von Bötticher? In Wirklichkeit war er noch verschwommener als auf dem Foto. Achtzehnjährige Mädchen wissen bereits, daß die Wirklichkeit nicht so klar umrissen ist wie die Phantasie. Wer ist je auf die Idee gekommen, Gedanken würden sich frei entfalten? Das tun sie nicht, sie bleiben ordentlich auf dem vorgesehenen Weg, und all die Begleitumstände, die die Wirklichkeit so verwirrend machen, schiebt die Phantasie bequemlichkeitshalber beiseite. Auf diesem Weg trifft man selten Unbekannte, den meisten ist man schon mal begegnet. Vielleicht sehen sie etwas anders aus, denn auch Hirngespinste werden älter, doch sie bleiben erkennbar. Das wußte ich inzwischen. Dennoch hatte ich gehofft, daß das Rätsel um das Foto einfach aufgeklärt würde. So verschwommen war es gar nicht mal. Der Fotograf hatte nicht gewackelt, die Backsteinmauer im Hintergrund war scharf. Mein Vater war in all seinem Ernst noch schärfer. Er hatte die lange Belichtungszeit um einer Verewigung willen durchgestanden, die ihm wichtig war. Es hatte nicht geholfen, daß er den Arm um die Schulter des anderen gelegt hatte. Der war zurückgeschreckt. Wenn ein Paukant den Kopf vor der Waffe wegzieht, werden ihm so viele Mensurduelle aufgebrummt, bis seine Ehre wiederhergestellt ist. Ein Schmiß reicht dann nicht. Der Leibhusar war erschrocken, er hatte die Schärfe des Abzugs gefürchtet wie ein unerfahrener Fuchs die Spitze der Waffe. Aber warum? Warum wollte er dem Moment entrinnen?Er hatte das Foto weggeschmissen. Mein Vater war mitten auf dem Tisch gelandet, das Gesicht auf der Decke. Der Feigling. So hatte er es gemeint. Das Land meines Vaters war ein Land von Feiglingen, von dort kam ich. An meiner Seite saß der Otter, noch so

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