Der Herr der Finsternis
1 Der Sonnenkater
D ie ganze Geschichte passierte eigentlich nur, weil ich krank g e worden war.
Obwohl es bereits nach zwei Uhr mittags war, lag ich immer noch im Bett und blätterte im Peter Pan, den ich schon mehr als zehnmal gelesen hatte. Den Wickel, den mir meine Mutter heute Morgen um den Hals gebunden hatte, hatte ich längst abgenommen und in die E cke geschleudert. Mir war völlig schleierhaft, wie ein in Wodka g e tränkter Verband gegen Husten helfen sollte. Natürlich hatte ich meine Mutter erst mal machen lassen, aber sobald sie aus dem Haus war, hatte ich meine Behandlung selber in die Hand genommen.
Ich hatte mich mit einem Buch ins Bett gepackt und darauf gewartet, dass der Krankheit diese langweilige Beschäftigung zum Hals rau s hing. Normalerweise funktioniert das. Okay, nicht auf Anhieb, aber nach zwei, drei Tagen schon.
Draußen herrschte ein Hundewetter. Mal schaute die Sonne kurz heraus, dann regnete es sich wieder ein, mit richtig ekelhaftem Niese l regen. In mein Zimmer fiel die Sonne allerdings sowieso nie, dafür stand unser Haus zu blöd: Auf allen Seiten versperrten Hochhäuser die Sicht. »In einer Wohnung wie dieser kann man höchstens Pilze züc h ten«, hatte Papa immer gesagt, als er noch bei uns wohnte.
Ich legte das Buch neben dem Bett auf den Fußboden und streckte mich auf dem Rücken aus. Wenn ich in diesem Moment die Augen geschlossen hätte, wäre all das vielleicht nie geschehen. Stattdessen schaute ich jedoch an die Decke und lauschte auf das Ticken der Uhr im Flur.
Da flog plötzlich ein Sonnenfleck durchs Fenster ins Zimmer. Ein kleiner Fleck nur, höchstens so groß wie meine Hand, dafür aber u n glaublich hell. Als ob draußen eine heiße Sommersonne schiene und im Haus gegenüber jemand mit einem Spiegel auf dem Balkon heru m spielte.
Der Sonnenfleck huschte über die Zimmerdecke, rutschte an der Wand runter, ließ die Glasschale auf der Kommode aufblitzen und kam mit einem leichten Zittern über dem Kopfende von meinem Bett zum Stehen.
»Bleib doch!«, sagte ich, denn mir war klar, dass der Sonnenfleck gleich weiterziehen und für immer aus meinem Zimmer verschwinden würde. »Geh nicht weg … «
Und genau damit fing alles an.
Der Sonnenfleck löste sich von der Wand und schaukelte durch die Luft. Im ersten Moment begriff ich nicht mal, dass so was gar nicht sein konnte. Erst als sich dieser schwebende Lichtfleck aufblähte und in eine pelzige, orangefarbene Kugel verwandelte, machte es bei mir klick: Direkt vor meinen Augen geschah ein Wunder.
Aus der leuchtenden Fellkugel streckten sich vier Pfoten heraus, i h nen folgten ein Schwanz und ein Kopf. Grüne Katzenaugen blinzelten mich kurz an und behielten mich danach fest im Blick. Der orangefa r bene Ball glich jetzt überhaupt sehr einem kleinen Kater. Bloß dass dieser K a ter in der Luft hing, leuchtete und leicht wie eine Feder zu sein schien: Einmal gepustet – und schon würde er davonfliegen.
»Hallo«, sagte der Kater. Immerhin miaute er nicht. »Vielen Dank für die Einladung.«
Rasch schloss ich die Augen. Doch als ich dann wieder hinsah, war der Kater immer noch da. Sogar näher als vorher.
»Ich glaube nicht an Märchen«, versicherte ich mir selbst und setzte mich langsam auf. »Dafür bin ich schon zu groß.«
»Im Vergleich zu dem kleinen Mädchen, das gerade den Wahren Spiegel gehalten hat, darfst du in der Tat als groß gelten«, erklärte der Kater, während er auf die Bettdecke segelte. Ängstlich starrte ich auf die Decke. Ob die gleich losschmurgelte? Aber nein, sie fing kein Feuer. In meinem Bauch brannte es ein bisschen, doch nicht wirklich schlimm. Der Kater legte den Kopf auf die Seite und fuhr fort: »Aber als Erwachsener dürftest du dennoch nicht durchgehen. Wie alt bist du? Zehn?«
»Ich werde bald vierzehn«, antwortete ich. Die sachliche Frage des Katers beruhigte mich irgendwie. »Wer bist du überhaupt?«
»Ein Sonnenball«, antwortete der Kater, während er sich neugierig musterte. »Zumindest äußerlich. Ich sehe doch so aus, oder?«
»Wie?«
»Wie ein Ball.«
»Eher wie ein Kater.«
»Das ist in meinem Fall dasselbe«, maulte der Kater und reckte sich.
Mir fiel nichts Besseres ein, als zu wiederholen: »Wer bist du denn nun?«
»Also hör mal, darüber haben wir uns doch gerade eben geeinigt!«, blaffte der Kater. »Ein Sonnenball, genauer ein Sonnenkater, denn diesem Tier ähnle ich weit mehr als einem Ball! Ist das so schwer zu begreifen?«
Ich geriet
Weitere Kostenlose Bücher