Die niederländische Jungfrau - Roman
Eine verlassene Frau zu sein, das ist abscheulich.«
Sie schluchzte und rannte aus dem Fechtsaal. Ich sprang auf und schrie ihr nach: »Die betrogene Betrügerin!«
Was war in mich gefahren? Ich hoffte, sie würde verschwinden, schnurstracks ins Auto und weg. Aber sie blieb auf dem Flur stehen. Zu meinem Entsetzen sah ich, wie sie in ihre Tasche griff, einen Schlüssel herauszog und schniefend die Tür zu Egons Zimmer aufschloß. Das würde sie mir büßen! Ich warf mein Florett hin und ging hintenrum ums Haus, wobei ich in meinen Turnschuhen auf dem nassen Gras rutschte. Woher ich den Mut nahm? Gegen eine Dame von Stand loszugehen, alt genug, meine Mutter zu sein? Bevor ich wußte, was ich tat, hämmerte ich wie eine Besessene gegen das Fenster, hinter dem zwei Erwachsene mich anstarrten. Es war einer dieser sehr kurzen Momente, in denen man sich selbst weismacht, man schere sich einen Dreck darum, was andere davon halten. Egon hatte Augen, so groß wie Untertassen, während sie sich an seinen Hals schmiegte und die Gerüche einsog, die ich liebte.
»Laß mich rein!«
Hinter ihnen sah ich eine Ecke seines Schreibtischs und darauf eine Schachtel, eine Kiste, nein, eine herausgezogene Schublade, verdammt noch mal! Ich schlug an die Scheibe. Er sagte etwas zu ihr, für mich nicht zu verstehen. Sie zog einen Schmollmund und schüttelte den Kopf. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, und sie ging. Achtlos wie ein Gefängniswärter drehte sie den Schlüssel herum und verschloß die Tür hinter ihrem Rücken sofort wieder. Ich drückte die Stirn an die Scheibe. Egon kam wieder in sein Zimmer zurück und setzte sich an den Schreibtisch. Ich sah nur seine Hände. Sie verschwanden in der Schublade, nahmen eine Karte heraus und rissen ein Streichholz an. Sie hielten die Karte fest, bis die Flammen groß wurden. Rauch kräuselte aus dem Aschenbecher empor, blieb unter der Lampe hängen, über dem Stich von Thibault. Er ließeine brennende Zigarre über dem antiken Papier schweben, dann strich er es glatt, wie ein Landstreicher seinen letzten Schein.
7
Nachts um Punkt zwölf stand die Tür einen Spaltbreit offen. Vor einer Stunde war sie noch verschlossen gewesen. Gespannt ging ich den Flur entlang. Hinter den Fenstern beugten sich die Bäume im Wind und wimmerten wie die Sau an diesem Morgen. Warum war der Wind hier nachts stärker als am Tag? In seinem Zimmer qualmte ein Kerzenstumpf, noch eine Viertelstunde, schätzte ich. Er schlief oder tat so als ob. An seinem Fußende richtete sich ein Ungetüm auf, das mich gelassen anstarrte, als ich flüsterte, es solle sich wieder hinlegen, gehorchte es mit lang anhaltendem Schmatzen. Das kalte Zimmer füllte sich mit dem Geruch seines Fells. Ich hätte mich gern neben seinen Herrn gelegt, der Behaglichkeit verbreitete, solange er schlief, mit einem Brustkorb, dessen Auf und Ab einen einlud, aber ich mußte seinen Schreibtisch erkunden. Mitten auf der Schreibunterlage prangte der Stich von Thibault. Ringsum war mit besessener Präzision aufgeräumt worden: drei gespitzte Bleistifte in gleichem Abstand voneinander, genau darunter ein Zirkel, in der linken Ecke ein Block, von dem die Hälfte abgerissen war, darauf ein Radiergummi, zwischen den Linien. Dies, wurde mir später klar, war der Schreibtisch eines Menschen, der nicht ein noch aus wußte. Eines Menschen, der seine verwirrten Gedanken dadurch vertrieben hatte, daß er Gegenstände ordnete. Blatt um Blatt war in seiner Faust zusammengeknäult und in den Papierkorb geworfen worden, er selbst schlief jetzt traurig. Ich hielt die Kerze überden halb sezierten Mann auf dem Thibault-Stich. Die rechte Hand zeigte nach oben, die enthäutete linke nach unten, zu den Worten Concavitas musculorum Femoris , und darüber: perinaeum, penis, anus . Perverslinge des siebzehnten Jahrhunderts! Eine halbe Leiche sollte von Sexualität nichts wissen. Ich befühlte den Block, im Papier waren die Löcher einer Zirkelspitze. Egon lag noch immer mit geschlossenen Augen im Bett, die Hände über dem Geschlecht verschlungen. Circulus no. 1, 2, 3, 4, 5 . Im Papierkorb fand ich noch mehr. Kreise, Zahlen, Linien, unleserliches Gekritzel, wütend in kleine Fetzen zerrissen. Ich wollte gerade aufstehen, da stieß meine Hand auf etwas Hartes. Es war ein halb verkohltes Stück Karton, wahrscheinlich die Karte, die er am Tag zuvor hatte verbrennen wollen. Aus dem Ruß tauchten ein Stempel, Spital Calvariënberg , und ein handgeschriebener Name, Fahnenjunker E.
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