Das Geheimnis der Herzen
M eine früheste Erinnerung an meinen Vater ist sein Gesicht, das über mir schwebt und weint. Diese Erinnerung stammt aus dem Jahr 1874, als in St. Andrews East, einer kleinen Stadt in Quebec nahe der Mündung des Ottawa River, etwa fünfzig Meilen von Montreal entfernt, ein besonders harter Winter herrschte. Es war Januar. Bald würde ich fünf Jahre alt werden.
Welcher Mechanismus bewirkt, dass Erinnerungen gespeichert werden und sich bestimmte Bilder in das Bewusstsein eines Kindes einprägen? Oft ist es etwas Traumatisches, wenn auch dieses Wort damals noch nicht zu meinem Vokabular gehörte. Ich hatte keine Ahnung, warum mein Vater in mein Zimmer gekommen war und warum er weinte. Als ich die Augen öffnete, wusste ich nur, dass etwas nicht stimmte. Der gewohnte Gang der Dinge war durchbrochen, das Regel gefüge gestört. Meine sichere kleine Welt war aus den Fugen geraten.
Mein Vater roch nach Pfeifentabak, ein wunderbarer Geruch, wie Schokolade. Ich starrte auf den Schnurrbart über seinen Lippen. Am liebsten hätte ich mein Gesicht an diesen Schnurrbart geschmiegt, aber natürlich tat ich es nicht. Er war ein imposanter Mann, und seine Launen waren manchmal unberechenbar. Ich lag einfach nur da und schaute ihn an.
Kurz nachdem er uns verlassen hatte, als die Felder und Wiesen und Straßen noch von Eis glitzerten, fand ich in der Scheune hinter unserem Haus eine seiner Pfeifen. Ohne lange nachzudenken, nahm ich sie und steckte sie in den Mund. Es war ein Experiment, der Versuch, zu kopieren, was ich bei ihm so oft gesehen hatte, und ihn zurückzuholen. Das Ergebnis war ein Schock. Die Pfeife schmeckte scheußlich, gar nicht wie die süße, dunkle Schokolade, mit der sich der Geruch in meiner Erinnerung verband. Ich spuckte, bis mir die Zunge wehtat und keine Spucke mehr da war.
In jener Nacht, als ich in meinem Bett lag und zu ihm emporschaute, war ich völlig durcheinander. Ich begriff ja erst allmählich, dass es auf der Welt noch andere Menschen als mich gab, mit einem Leben, das von meinem getrennt war. Dass mein Vater weinen konnte, verwirrte mich, also machte ich die Augen wieder zu, sperrte alles aus, außer seinem Geruch und dem Geräusch seines schnellen, flachen Atems.
Er sprach französisch mit mir, was er manchmal tat, wenn wir beide allein waren. Ich weiß nicht mehr, was er sagte. Nichts über den Prozess oder seine tote Schwester, so viel steht fest. Darüber sprach er mit niemandem in dem Haus in St. Andrews East, nie. Wahrscheinlich versuchte er mich zu beruhigen. Ich glaube, ich habe damals schon gemerkt, dass er log. Ich spürte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte, und plötzlich brach auch ich in Tränen aus. Ich muss ziemlich lange geweint haben, denn als ich wieder aufschaute, war er fort.
In jener Nacht nahm er nur seine Kleidung mit und das Geld, das er für die Taufe beiseitegelegt hatte – Laures Taufe, auch wenn er damals noch nicht wissen konnte, dass das ungeborene Kind Laure werden würde. Meine Eltern hatten ihren Namen aber schon vor der Geburt ausgesucht, so wie bei mir, Agnès. Für das neue Kind war es Paul, falls es ein Junge würde, und Laure für ein Mädchen, Namen, die auf Französisch und Englisch ähnlich klangen. Am Ende musste Laure mehrere Jahre auf ihre Taufe warten. Großmutter kümmerte sich darum, wie um so vieles andere.
Die längste Zeit glaubte ich, dass ich meinen Vater vertrieben hatte. Meine Tränen hatten ihn in die Flucht geschlagen. Eben war sein Gesicht noch da gewesen, aber dann, nachdem ich die Augen zugemacht und geweint hatte, war er fort. Kindliche Logik sicherlich, aber deshalb nicht minder zwingend. Was hätte er getan, wenn ich nicht geweint hätte?, musste ich später immer wieder denken. Und wenn ich meine Kinderarme nach ihm ausgestreckt hätte? Von dem Tag an beherrschte ein Gedanke mein Leben: Ich wollte meinen dunklen, traurigen Vater finden und ihn zurückgewinnen. Dass ich ihn eigentlich kaum gekannt hatte und dass meine früheste Erinnerung an ihn auch schon fast die letzte war, spielte dabei keine Rolle. Sein Gesicht blieb mir über die Jahre immer gegenwärtig, so klar und deutlich wie in der Januarnacht, als er uns verließ.
I
SANKT AGNES
Sankt Agnes’ Abend – oh, wie fror die Welt!
– JOHN KEATS
1
Januar 1882, St. Andrews East, Quebec
D en ganzen Morgen wartete ich schon auf den Tod, aber als er schließlich eintrat, war die Veränderung so minimal, dass ich sie fast nicht bemerkt hätte. Ich hatte das
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