Die Nomadengott-Saga 01 - Der Nomadengott
Heimat, neue Heimat
Als Seshmosis von seinen neuen Erkenntnissen berichtete, brach Begeisterung unter den Tajarim aus. Viele hatten schon von der legendären Stadt Jericho gehört, und nun war man sichtlich stolz, aus dieser uralten Stadt zu stammen. Es kostete Seshmosis viel Mühe, die Euphorie zu bremsen und seine Leute davon zu überzeugen, dass es ein Fehler wäre, mit der ganzen Karawane nach Jericho aufzubrechen. Endlich stimmten sie zu, dass nur ein paar Männer die Stadt besuchen sollten.
Angesichts der Warnung von Barak, dass Räuber die Gegend unsicher machten, wählte Seshmosis die stärksten Tajarim als Begleiter aus: Elihofni, Hiram, Melmak, Mumal und Schedrach. Gerne hätte er Jabul, Jebul und Jubul mitgenommen, doch Raffim bestand darauf, dass seine Leibwächter zu seinem Schutz in Gaza blieben.
Nachdem er seine Gruppe zusammengestellt hatte, begab er sich zur Nachtruhe in sein Zelt. Gewohnheitsmäßig verneigte er sich vor dem Schrein von GON und wollte sich schon wieder abwenden, als sich der Gott materialisierte. Auf dem Schrein erschien die Miniaturausführung einer bärtigen Männergestalt.
Seit der Sache mit dem Goldenen Kalb war Seshmosis klar, dass GON ihm mit der Gestalt, die er jeweils annahm, einen Hinweis geben wollte. So vermutete er jedenfalls.
»Wen stellst du diesmal dar?«, wollte der Schreiber wissen.
»Etwas mehr Respekt bitte, Herr Prophet!« GON klang ungehalten.
»Tut mir Leid. Ich bin müde. Außerdem fühle ich mich immer noch mehr als Schreiber denn als Prophet«, entschuldigte sich Seshmosis.
»Du siehst vor dir das Abbild von Tiglat, Patriarch von Jericho, Stammvater der Tajarim!«, verkündete GON.
»Soll das heißen, du hast die ganze Zeit gewusst, dass wir aus Jericho stammen?« Seshmosis rang mit der Fassung.
»Wenn ich ja sage, bist du sauer. Wenn ich nein sage, zweifelst du an meiner göttlichen Macht. Welche Antwort ist dir lieber?«
»Die richtige. Die Wahrheit wäre mir wirklich am liebsten.«
»Gut gewählt, Seshmosis! Ich wusste es nicht. Du weißt, ich habe mit euren anderen Heiligen Rollen nichts zu tun. ›Die Schöpfungsgeschichte‹, ›Die Tafel der Väter‹, ›Das Goldene Zeitalter‹ und ›Die Große Flut‹ stammen nicht von mir. Mein Werk ist ›Die Kleine Karawane‹. Meines, mit der dir bekannten Hilfe.«
Seshmosis nickte und musste an einen Käfer denken, der über Papyrus kroch und mit seinem Hinterteil die Schrift hinterließ.
»Ich habe nie behauptet, der Gott eurer Väter zu sein. Ich war auch noch nie in diesem Land. Aber ich habe mit deiner Hilfe die morphologischen Resonanzen von Tiglat aufgespürt, und daher weiß ich jetzt, wie er aussah«, erklärte GON resolut.
»Was sind morphologische Resonanzen?«, fragte Seshmosis staunend.
»Schwingungen. Feinstoffliche Energien. Jeder Mensch, ja sogar jedes Ding hat sie. Und selbst wenn der Mensch gestorben oder das Ding zerstört ist, bleiben immer Schwingungen übrig. Ich kann sie aufspüren und lesen. Und zu Bildern werden lassen.« GON klang sehr stolz. Anscheinend konnten das nicht alle Götter.
»Du hast wirklich diese Morphodings von Tiglat gefunden?« Seshmosis war tief beeindruckt.
»Ja. Wenn ich erst einmal einen Ansatzpunkt habe, ist es gar nicht so schwer für mich. Es tut mir Leid, es sagen zu müssen, aber euer Tiglat war ein ziemlich unfreundlicher Zeitgenosse. Übellaunig, gewalttätig und auch nicht sonderlich gottesfürchtig. Wenn es gar nicht anders ging, brachte er Baal ein Opfer. Doch nur um seine Leute zu beruhigen und nicht, weil er an ihn glaubte. Also, ich hätte den Kerl nicht gemocht!«
Seshmosis wirkte enttäuscht. »Dabei haben wir ihn alle so verehrt, dass sogar sein Name tabu war.«
»Sei doch froh. Wer möchte schon den gleichen Namen haben wie dieser Unsympath?«
»Lebte er wirklich in Jericho?«, wollte Seshmosis wissen.
»Ja. Damals herrschte wohl eine große Dürre im Jordantal. Tiglat, der sture Bock, wollte aber keineswegs nach Ägypten ziehen. Erst als seine Söhne drohten, ihn dem einsamen Hungertod zu überlassen, ging er murrend und schimpfend mit. Übrigens war sein ältester Sohn Habak der Vater von dem bewussten Shamir, der wegen seiner Liebe zu Rachel nach Jericho zurückkehrte. Die beiden sind ziemlich glücklich geworden. Das kannst du deinem Freund Barak gelegentlich erzählen. Er interessiert sich doch für diese Liebesgeschichte.«
»Werde ich tun. Doch zuerst muss ich heil nach Jericho und zurückkommen.«
»Deshalb
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