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Die Nordischen Sagen

Die Nordischen Sagen

Titel: Die Nordischen Sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Neuschaefer
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sich nun klaffende Spalten, die bis hinunter nach Niflheimreichten. Immer wieder stürzten Menschen, Zwerge und andere Bewohner Mittelerdes schreiend in die Tiefe. Die Luft war erfüllt von Staub, der den Schnee schwarz färbte und das Atmen unmöglich machte. Überall irrten verzweifelte Gestalten umher, die in der trüben Luft die Orientierung verloren hatten. Manche verharrten regungslos, aus Angst, mit dem nächsten Schritt in den Abgrund zu stürzen. Andere rannten ziellos umher, auf der Flucht vor etwas, das überall war.
    Immer wieder bebte und zitterte die Erde. Riesige Felsplatten schoben sich gegeneinander und entstellten die Landschaft. Zwischen all der Zerstörung aber krähte der feuerrote Hahn, der Verkünder des Endes, und schrie seine Botschaft über ganz Midgard hinaus: »Ragnarök ist da!«
    »Ragnarök ist da!«, verkündete der braune Hahn im Totenreich der Göttin Hel. Sein Ruf drang durch die Ödnis Niflheims und bis in die tiefsten Schluchten.
    Noch lauter aber als das Krähen des Hahns hallte Lokis Lachen durch die Atla-Schlucht, denn auch hier barsten die Felsen.
    »Sieh nur, Sigyn, die Stunde der Freiheit ist nah. Die Stunde der Rache.«
    Er spannte seine Muskeln und warf sich gegen das Band, das ihn an den Felsen fesselte. Die Höhle bebte. Steinbrocken stürzten von der Decke und prasselten auf Sigyn herab. Aber Loki achtete nicht auf ihre Schreie. Als er sich erneut gegen die Wand stemmte, zeigte der Fels feine Risse.
    »Loki, hör auf. Bitte. Bestimmt kann ich deine Fesseln jetzt lösen.« Sigyn war vor Loki auf die Knie gegangenund kratzte mit blutigen Fingern an den Felsen, um die Schlingen zu lösen. »Bitte, wir werden beide verschüttet werden.«
    Doch Loki hörte sie nicht. Ein drittes Mal zerrte er mit aller Kraft an seinen Fesseln, und der Stein gab nach. Aus den Tiefen des Berges stieg ein dumpfes Dröhnen, alles vibrierte, dann stürzte die Höhlendecke ein.
    Eine Weile war es still, und der Staub senkte sich langsam auf die Trümmer. Dann reckten sich zwei starke Arme unter dem Geröll hervor und begannen, die Steine beiseitezurollen. Loki stand aus dem Schutt auf, blutend, aber mit glühenden Augen. Über die kleine, halb verschüttete Gestalt zu seinen Füßen stieg er achtlos hinweg.
    Irgendwo, auf dem Boden der Atla-Schlucht, hob ein triumphierendes Geheul an, und der Fenriswolf rannte durch die Nacht.
    Odin war alleine, als er den Schrei des Hahns in Asgard hörte. Noch immer stand er wie erstarrt von dem schrecklichen Schauspiel, das sich soeben vor seinen Augen ereignet hatte: Die Hetzjagd der beiden Wölfe auf Sonne und Mond. Wie die Gestirne gerissen und geschluckt wurden und wie die Nacht hereingebrochen war, mitten am Tag.
    Der dritte Hahn hatte gekräht. Ragnarök war nicht mehr aufzuhalten. Er musste die anderen Götter zusammenrufen. Odin wandte sich vom Fenster ab und stand plötzlich einer großen schlanken Gestalt gegenüber.
    »Wörlundur!« Odin spürte, wie sich die Erleichterung in ihm ausbreitete. »Ich habe dich nicht eintreten hören. Gut, dass ihr schon da seid. Die Prophezeiung erfülltsich, gerade hat der dritte Hahn gekräht. Wo steht dein Heer?« Odin trat wieder ans Fenster und blickte suchend hinaus, doch Wörlundur hob die Hand.
    »Ich bin alleine.«
    Odin blickte immer noch aus dem Fenster. »Natürlich. Aber wo sind deine Krieger?«
    »Wir werden nicht kämpfen!« Wörlundur, der Albenherrscher, trat zu Odin und legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter. »Wir sind Bewahrer, keine Kämpfer.«
    Es dauerte einen Moment, bis Odin verstand, was Wörlundur gesagt hatte. Fassungslos stand er dem Alben gegenüber. Er öffnete den Mund, aber er fand keine Worte.
    »Um mir das zu sagen, bist du gekommen?« Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. »Wenn Ragnarök da ist, wird es nichts mehr zu bewahren geben. Das dunkle Heer wird euch einfach abschlachten.«
    Wörlundur antwortete nicht.
    Odin blickte in die unbewegten Züge des Albenherrschers, dann griff er nach einem Schwert und zerbrach es in seinen Händen.
    »Abschlachten. Dein ganzes Volk. Wie kann man nur so feige sein?«
    Odin umkreiste Wörlundur wie ein Wolf. Doch der Albe blieb einfach stehen.
    »Wenn das Schicksal unseren Tod bestimmt hat, dann nehmen wir ihn an. Dies ist nicht unser Kampf, Odin. Und die Götter sind nicht unschuldig an dem, was geschieht. Vielleicht hättet ihr die Riesen nicht in die Dunkelheit verbannen sollen. Leb wohl.«
    Aufrecht und ohne Eile verließ Wörlundur

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