Die Strudlhofstiege
Erster Teil
Als Mary K.s Gatte noch lebte, Oskar hieß er, und sie selbst noch auf zwei sehr schönen Beinen ging (das rechte hat ihr, unweit ihrer Wohnung, am 21. September 1925 die Straßenbahn über dem Knie abgefahren), tauchte ein gewisser Doktor Negria auf, ein junger rumänischer Arzt, der hier zu Wien an der berühmten Fakultät sich fortbildete und im Allgemeinen Krankenhaus seine Jahre machte. Solche Rumänen und Bulgaren hat es zu Wien immer gegeben, meist im Umkreise der Universität oder der Musik-Akademie. Man war sie gewohnt: ihre Art zu sprechen, die immer mehr mit dem Österreichischen sich durchsetzte, ihre dicken Haarwirbel über der Stirn, ihre Gewohnheit, stets in den besten Villenvierteln zu wohnen, denn alle diese jungen Herren aus Bukarest oder Sofia waren wohlhabend, oder hatten wohlhabende Väter. Sie blieben durchaus Fremde (denen aus der Heimat andauernd ungeheure Pakete mit ihren nationalen Leckerbissen zugingen), nicht so konsolidiert fremd wie die Norddeutschen zwar, sondern mehr eine sozusagen hiesige Einrichtung, dennoch eben ›Balkaneser‹, weil auch bei ihnen sich das Spezifische ihres Sprechtones nie ganz verlor. Damen in Wien, welche ein oder zwei Zimmer ihrer Wohnung oder ihrer Villa zu vermieten gedachten, suchten sich dazu einen ›bulgarischen oder rumänischen Studenten‹ und wurden dann von diesen untereinander weiterempfohlen. Denn in den zahlreichen Cafés um die Universität oder um die Kliniken herum bestand ein connationaler Zusammenhang.
Der Doktor Negria nahm Anstoß an Marys Ehe. Er konnte nicht glauben, er vermochte es einfach nicht zu glauben, daß Marys Gattinnentreue zulängliche Grundlagen habe, er ärgerte sich maßlos über diese Treue, und dieser Ärger war mindestens gleichzeitig da mit dem ersten Affekte der Begehrlichkeit. (Der Schriftsteller Kajetan von S. hätte hier zweifellos geschrieben »er begehrte sie aus abgründiger Bosheit« – und bei Leuten seiner Art mag es ja solche im Grunde harmlose, auf groteske Manier zurechtfrisierte Dummheiten wirklich geben.) Das Verflixte bei dem Angelhaken, den der Doktor Negria verschluckt hatte, war jedoch, daß jene untadelige Frau keineswegs unbewußt eine treue Frau war. Sie war zu wenig einfältig, ihrem Herzen waren schon in der Mädchenzeit – während welcher sie durchaus als Frau fühlte, schon mit vierzehn – verschiedene Falten bewußt geworden, und so hatte sie sich denn später auf jener Ebene entfaltet und reifend geglättet, welche zuständig wird für alle, die ihre Lebensbahn nicht zwischen fugenlosen Mauern der Unschuld wandeln, eine Straße ohne Ausblick wie die vom alten Athen zum Piräus. Mary ist aber unberührt in die Ehe mit ihrem Oskar getreten. Andererseits, wenn sie hier treu war, so blieb es auch nicht deshalb dabei, weil ein stabiler Gleichgewichtszustand bei ihr entstanden wäre aus einer Art von unwiderruflicher Entscheidung und gewissermaßen Bekehrung zu ihren Aufgaben als Gattin und Mutter, als Mutter eines hübschen Kinderpaares, Mädel und Bub, jenes rötlichblond nach dem Vater, dieser dunkeltizianrot wie sie selbst.
Zwischen den angedeuteten Grundlinien stellte sich die Sache dem Doktor Negria (nicht der Frau Mary) dar, und die Konstruktion, welche er da einem sich darbietenden Sachver halt unterschob, stimmte im großen und ganzen. Auf diesem untergezogenen Rost – der aber am unentschiedenen Dahinleben des Gegenstandes durchaus nichts zu ändern vermochte – briet er seinen Ärger.
Es gibt eine Treue, die nichts anderes ist als Habsucht in Bezug auf Qualitäten, Qualitäts-Geiz, der, was er an Besitz-Titeln hat, an sich halten will. Eine solche Treue von gewissermaßen nur meritorischer Natur – aber meritum heißt auch das Verdienst – bildet ein bequemes Stieglein zur Hoffart und man gewöhnt sich daran, gerne da hinauf zu treten wie an einen Fensterplatz im Erker, von wo aus man auf die gewöhnlichen Straßenpassanten hinabblicken kann. Eine solche Treue ist nicht stabil im Gleichgewicht und verdient eigentlich nicht ihren Namen, sie meritiert ihn nicht, eben weil sie nur meritorisch ist, aber sie wird unter Umständen sehr schwer aufgegeben, und wenn diese Umstände als unsichtbare Mauern, die aber gleichwohl den Ausblick verengen, als lange Mauern durch die Jahre den Weg begleiten, dann bleibt es beim gedachten meritum.
Das brachte den Doktor Negria auf, und hier zum Durchbruche zu gelangen – er war durchaus immer ein Durch-Brecher – wurde ihm zum
Weitere Kostenlose Bücher