Die Nordischen Sagen
hättest du blind werden sollen, aber es hat jemand für dich um Gnade gebeten.«
Aus dem Dunkeln führte Skadi Lokis Gemahlin Sigyn in die Höhle. Sie war blass, und Schatten lagen auf ihren Wangen. Ihre Augen huschten ängstlich durch die Höhle und verharrten plötzlich auf Wali, dem Wolf. Schwankendging Sigyn auf das Tier zu und streichelte ihm sanft über den Kopf. Der Wolf senkte den Kopf, legte sich zu ihren Füßen und leckte ihr über die Hand. Auch Sigyn sank auf die Knie und vergrub das Gesicht im dichten Fell des Wolfes. Dann richtete sie sich wieder auf und deutete schweigend auf den Ausgang der Höhle. Wali, der Wolf, stand auf und verschwand in der Dunkelheit. Einen Moment lang blickte Sigyn ihrem verwandelten Sohn hinterher.
Die Götter sahen das alles schweigend mit an. Erst als Sigyn zu Loki trat und ihm zärtlich über das Haar strich, wandte Odin sich noch einmal an den Verräter.
»So viel Mitleid hast du nicht verdient. Leb wohl, Loki.«
Während die Götter die Höhle verließen, holte Sigyn eine Schale aus ihrem Gewand hervor und fing das herabtropfende Gift damit auf, sodass es nicht mehr in Lokis Augen rinnen konnte.
Als die Götter aus der Atla-Schlucht wieder hinauf nach Asgard stiegen, waren sie sehr schweigsam. Sie wussten, was sie erwartete, und hofften doch, das Schicksal abwenden zu können. Es war kalt geworden, und in den letzten Stunden musste es auch geschneit haben, denn der Boden war mit einer weichen Schneeschicht bedeckt. Die Götter wickelten sich enger in ihre Mäntel, zogen die Schultern hoch und verschränkten die Arme vor dem Körper. Doch es half nichts. Die Kälte kroch wie eine Krankheit an ihnen empor, unter ihre Kleider, durch ihre Haut, in sie hinein und griff nach ihren Herzen. Diese Kälte war die Kälte des Fimbulwinters, ein Vorbote des Endes.
Plötzlich erzitterte der Boden unter ihren Füßen, und sie blieben stehen.
»Das ist Loki«, sagte Odin, ohne sich umzuwenden, »er reißt vor Schmerz an seinen Fesseln. Wahrscheinlich musste Sigyn hinausgehen, um die Schale zu leeren. Jetzt schützt niemand seine Augen.«
Das Beben dauerte an. Steinschläge rollten von den Bergen herab, Bäume fielen um, und in der Erde taten sich Spalten und Risse auf. Einige Zwerge flohen aus ihren unterirdischen Höhlen und drückten sich nun in die Schatten der Berge, um dem trüben Sonnenlicht zu entgehen, das auf die froststarrende Welt fiel. Einige von ihnen waren vor lauter Angst nicht vorsichtig genug. Denn wenn auch die Sonne kaum mehr als eine schwache milchige Kugel war, so verwandelte sie die Zwerge doch unweigerlich zu Stein. Ihre Schreie verstummten von einem Augenblick zum nächsten. Und da standen sie nun, kleine, leblose Gestalten, auf deren Gesichtern noch die Angst lag.
Dann war das Erdbeben vorüber.
Odin, Thor, Heimdall und Skadi setzten ihren Weg fort. Sie sagten nichts, sie wandten ihre Köpfe nicht, sie gingen einfach weiter. Durch das verwüstete Midgard hindurch und die Regenbogenbrücke Bifröst hinauf. Erst jetzt sah Odin sich um. Die Weiten Asgards lagen schneeversunken vor ihm, aber das schien ihm gleichgültig zu sein, genau wie die Wolfskälte, die ganz allmählich alles Leben aus den Welten presste. Odin blickte auf eine riesige Ebene, auf das Wigridfeld. Wenn es wirklich zum Kampf kam, würden sie sich hier gegenüberstehen.So behauptete es die Prophezeiung seit Anbeginn der Zeit. Noch lag das Feld unberührt unter einer Daunendecke aus weißem, reinem Schnee.
Die Götter stiegen eine Anhöhe hinauf, und der Wind nahm ihre Atemwolken mit sich fort.
»Wozu haben wir denn all die toten Helden bei uns in Asgard?«, brüllte Odin plötzlich den anderen zu. »Die besten Kämpfer aus all den Jahrhunderten. Seit sie in Walhall eingegangen sind, ist kein Tag vergangen, an dem sie sich nicht im Kampf geübt hätten. Wir Asen zittern nicht vor dem Feind!« Und Odin riss seinen Speer in die Höhe und stieß einen Kampfschrei aus, entschlossen, zornig, gnadenlos. Auch Thor und Heimdall und sogar Skadi stimmten ein. Sie schrien, dass es bis in die mittlere Welt hinunterhallte, und es war, als würde dabei etwas von der Kälte von ihnen abfallen.
Dann ließ Odin den Speer sinken. Sie hatten den Gipfel des Hügels erreicht und konnten nun ins Tal sehen. Wo bisher Wiesen und Felder waren, lag nun ein Gebirge aus verdorrten und erfrorenen Ästen. So weit man sehen konnte, war die Erde mit Zweigen und Blättern übersät.
»Yggdrasil«, flüsterte
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