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Die Nordischen Sagen

Die Nordischen Sagen

Titel: Die Nordischen Sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Neuschaefer
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Odin.
    Er ging auf die toten Zweige zu, sank zwischen ihnen auf die Knie und strich mit der Hand über sie.
    Entsetzt blickten die anderen Götter zu Odin. So ohne Hoffnung hatten sie ihn noch nie gesehen.
    Thor trat zu seinem Vater und half ihm auf. Dann ballte er die Faust und schleuderte Feuer in die zerbrochenen Äste. Bald loderte ein riesiger Scheiterhaufen und brannte den Göttern den Weg frei.
    Odin suchte den Blick seines Sohnes, bückte sich und tauchte zwei Finger in die qualmende Asche. Dann zeichnete er sich damit magische Zeichen auf Stirn und Wangen. Die Runen der Rache!
    »Ich befehle euch zu erscheinen!«
    Odin stand neben Thor, Heimdall und Skadi an der Urd-Quelle. Sein Auge glühte, und er erschien um ein Vielfaches größer als sonst.
    »Nornen! Schicksalsfrauen! Hier steht euer Herrscher und sein Gefolge. Zeigt euch!«
    Doch die Urd-Quelle lag erstarrt vor ihm. Fast das gesamte Becken der Quelle war zugefroren, nur in der Mitte, dort, wo das Quellwasser aus dem Boden hervortrat, sprudelte sie noch. An den wenigen kahlen Ästen der Weltesche, die sich noch über die Quelle neigten wie die Finger einer schwarzen Hand, hingen glitzernde Eiszapfen.
    Odin sah sich um. Wie wunderschön dieser Ort war, selbst im Würgegriff des Fimbulwinters. Oder vielleicht sogar gerade jetzt. Grausam schön. Unwirklich, so hell durch Schnee und Eis, fast gläsern und dabei fast tot.
    Endlich stieg eine schlanke Nebelsäule aus dem Wasser auf und nahm die Gestalt einer Frau an. Aus der Erscheinung lösten sich gleich darauf zwei weitere Nebelfrauen und schwebten nebeneinander über der Quelle.
    »Niemand befiehlt uns! Auch du nicht!« Alle drei Nornen bewegten den Mund, aber sie sprachen nur mit einer Stimme. Mit einer hellen, reinen Stimme, aber so kaltund gleichgültig wie das Eis an den Rändern der Urd-Quelle.
    »Wie konntet ihr das zulassen? Yggdrasil ist tot. Die Weltesche ist gestorben. Und ihr hättet es verhindern können.« Odins Stimme hallte von den Bäumen wider, die die Urd-Quelle umgaben, und die Adern an seiner Stirn waren geschwollen. »Solange der Baum steht, wird sich die Prophezeiung nicht erfüllen. Ihr geht jetzt und schüttet euer heilendes Wasser auf seine Wurzeln, oder ihr werdet mich kennenlernen.«
    Die Schicksalsschwestern blickten ihn ausdruckslos und schweigend an, dann bewegten alle zur gleichen Zeit die Lippen. »Niemand droht den Nornen. Dieser Ort ist heilig. Odin, du bist hier nicht länger willkommen. Geh!«
    Doch Odin rührte sich nicht.
    Ohne den Göttervater zu beachten, wandten sich die Schicksalsfrauen nun an den Donnergott. »Thor, komm heran! Yggdrasil ist noch nicht tot. Nur die Hälfte seiner Krone ist bislang herabgebrochen. Aber seine Zeit ist gekommen.«
    »Und das heilige Wasser? Eure Quelle?«, fragte Thor. »Warum begießt ihr Yggdrasil nicht mehr damit? Es würde ihn am Leben erhalten.«
    Verständnislos blickte er zwischen den Nornen hin und her.
    Die weißen Gestalten jedoch blickten durch ihn hindurch, als sie antworteten. »Wir stellen uns nicht gegen das Schicksal. Der Drache Nidhöggr hat Yggdrasils Hauptwurzel durchgebissen. Die Unterirdischen zerstörenall die anderen Wurzeln. Wenn die Esche fällt, fallen die Welten. Dieses Los ist Yggdrasil und euch in den Himmel gehängt.«
    »Ich nehme das Schicksal nicht an.« Odin schob Thor beiseite und stieß jetzt seinen Speer in die heilige Quelle. Sofort überzogen feine Risse die Eisdecke an den Rändern. Das Wasser im Zentrum aber schien für einen Augenblick rot wie Blut. Durch den aufsteigenden Dampf hindurch schrie Odin die Nornen an: »Sagt mir, was ich tun muss!«
    Die Nornen blickten einen Moment auf die Waffe, dann schlossen sie die Augen und verwehten.
    Wütend trat Odin mit dem Fuß ins Wasser. »Dann eben ohne eure Hilfe.«
    Das Pferd Helhesten ist fahl. Wer es in der Nacht sieht, wird es für grau oder silberfarben halten, vielleicht auch für weiß. Doch das ist es nicht, es ist fahl. Das Pferd hat nur drei Beine. Das Auffälligste an ihm aber sind nicht die Beine, sondern seine Augen. Sie sind groß, feucht und von einem unbeschreiblichen Blauschwarz. Obwohl diese Augen tief in den Höhlen liegen, haben sie eine seltsame Leuchtkraft, und wer sich darin spiegelt, kann nie wieder wegsehen und sehnt sich danach zu sterben. Denn Helhesten ist das Totenpferd.
    Auf ihm reitet die dunkle Göttin Hel durch die Welten und holt die Gezeichneten zu sich in ihr Reich, in das Land Hel, weit unter der tiefsten

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