Die Normannen
Generationen in ihre neue Umgebung integrieren beziehungsweise assimiliert werden. Unter besonderen Umständen kann dieser Prozess aber schneller verlaufen: Im Kreuzfahrerfürstentum Antiochia wurde die kleine normannische Oberschicht bereits 1119 durch die verheerende Niederlage auf dem Blutfeld so dezimiert, dass sich die wenigen überlebenden Normannen rasch in den im Heiligen Land ansässig gewordenen französischen Adel integrierten, der in die frei gewordenen Positionen in Antiochia nachrückte (s.S. 94). Und wie stark dieser Kreuzfahreradel bereits 1127 von der orientalischen Kultur beeinflusst war, sahen wir an den zu Beginn dieses Epilogs zitierten Worten Fulchers von Chartres.
Man geht in der Forschung davon aus, dass der Preis für die Bereitschaft und Fähigkeit der Normannen, sich in neue fremde Umgebungen zu integrieren, der Verlust ihrer normannischen und die Annahme einer neuen Identität gewesen sei: Aus Normannen seien Engländer oder Süditaliener geworden. Dabei benutzt man indes oft einen statischen Identitätsbegriff und übersieht, dass – abgesehen davon, dass Identitäten ähnlich wie Kulturen und Völker ständig im Wandel sind – es auch multiple und sich verschiebende Identitäten (
shifting identities
) gibt. So finden wir unter den sizilischen Bauern des 12. Jahrhunderts Muslime mit griechisch-christlichen Namen und Christen mit arabisch-muslimischen Namen wie Mohammed (Metcalfe). Und auch angesichts der Tatsache, dass Roger II. zwar der Sohn eines normannischen Einwanderers war, es jedoch keine Belege dafür gibt, dass er sich als Normanne fühlte, ist es letztlich kaum angebracht, von einem normannischen Königreich Sizilien zu sprechen, wie dies üblicherweise getan wird. Urkunden Rogers, die von «unseren Normannen» sprechen, sind spätere Fälschungen und daher auch kein Indiz, das auf eine normannisehe‹Identität› des ersten Königs von Sizilien schließen lassen könnte.
Es bleibt abschließend die Frage, weshalb die Normannen auch als Minderheit in England und Süditalien so erfolgreich waren, in anderen Ländern dagegen nicht. Wichtig waren sicherlich ihre Bereitschaft zur Anpassung, ihr Pragmatismus und ihre militärische Erfahrung. Hinzu kommt, dass sie in England und Süditalien zwar eine Minderheit stellten, aber nicht eine so verschwindend kleine wie in Antiochia oder bei den gescheiterten Versuchen der Herrschaftsbildung in Anatolien und Tarragona. Auch der Zufall spielte eine Rolle, was besonders am Fall Antiochias deutlich wird, wo das normannische Element infolge der in der erwähnten Schlacht von 1119 erlittenen schweren Verluste nur zwanzig Jahre nach der Gründung des Fürstentums rasch an Bedeutung verlor. Im Unterschied dazu waren sowohl die Eroberung von Süditalien und Sizilien als auch die folgende Entstehung und Stabilisierung des Königreichs Sizilien einer Reihe glücklicher Umstände zu verdanken: Das byzantinische und das römisch-deutsche Kaiserreich waren von Problemen in Anspruch genommen, die es ihnen nicht erlaubten, den normannischen Eroberern entgegenzutreten; die islamischen Mächte waren zu zerstritten und mit dem Kampf gegen die Kreuzfahrer beschäftigt, um an eine Rückeroberung Siziliens zu denken; das ebenfalls krisengeschüttelte Papsttum benötigte hingegen die militärische Unterstützung der Normannen.
Mit ihrer Expansion nach England und den Eroberungen im Süden veränderten die Normannen im 11. und 12. Jahrhundert die politische Landkarte (s. Karte hintere Umschlaginnenseite) und das kulturelle Gesicht Europas. Andere normannische Eroberer und Abenteurer hinterließen langfristig keine Spuren, sind aber als Grenzgänger zwischen Okzident und Orient von Interesse. Der nachhaltige Erfolg der Normannen im Norden und Süden Europas erklärt sich, wie wir gesehen haben, mit ihrer Fähigkeit, sich unterschiedlichen geographischen, politischen und kulturellen Umgebungen anzupassen und sich in sie zu integrieren.
Literaturhinweise
Asbridge, Thomas S.: The Creation of the Principality of Antioch 1098–1130, Woodbridge 2000.
Bauduin, Pierre: La première Normandie (X e -XI e siècles). Sur les frontières de la haute Normandie. Identité et construction d’une principauté, Caen 2004.
–: Les modèles anglo-normands en questions, in: Nascita di un regno. Poteri signorili, istituzioni feudali e strutture sociali nel Mezzogiorno normanno (1130–1194), hg. v. Raffaele Licinio/Francesco Violante, Bari 2008, S. 51–97.
Becker,
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