Die Normannen
ein Problem, das seit dem Ende des 20. Jahrhunderts eine neue Aktualität angenommen hat. Ob und wie sich Einwanderer integrieren und assimilieren, hängt von verschiedenen Faktoren ab: von ihrer Zahl, ihrer Zusammensetzung (Gruppen von Familien oder Einzelnen), ihrer sozialen Stellung, ihrer Kultur und Religion sowie davon, ob sie sich verstreut oder in größeren Gruppen ansiedeln. Auch der Wille der Einwanderer, sich zu integrieren, die Reaktion der Einheimischen sowie Institutionen, die die Integration bewusst oder unbewusst fördern, beeinflussen diesen Prozess, wobei eine stark integrative Wirkung von Heiraten zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen ausgeht.
Dies zeigen auch die Beispiele, die wir in den vorhergehenden Kapiteln erwähnt haben: Die Wikinger, die sich in Nordfrankreich niederließen, waren bereit, sich in das christliche Frankenreich zu integrieren, indem sie dessen Religion und Sprache annahmen; Mischehen konnten diesem Schritt vorausgehen und ihn erleichtern, ihm aber auch erst folgen. Die fränkischen Herrscher förderten die Integration, um die Nordgrenze ihres Reiches zu sichern. Das Ergebnis war die Ethnogenese der Normannen, die Entstehung eines neuen Volkes, das zwar die Religion und Sprache seiner Vorfahren aufgab, aber Erinnerungen an skandinavische Wurzeln pflegte, durch die es sich von den anderen Franken/Franzosen unterschied. Bei der Integration und Bildung einer spezifisch normannischen Identität spielte, wie wir gesehen haben, die lateinische Kirche eine wichtige Rolle (s.S. 19).
Das Gleiche gilt für die Integration der Normannen in England und Süditalien. In England erleichterten, wie erwähnt, die gemeinsame Religion und ähnliche Kultur die Verbindungen zwischen Eroberern und Einheimischen. Die normannisch-französische Sprache verdrängte die angelsächsisch-altenglische aus dem schriftlichen, nicht jedoch aus dem mündlichen Bereich. Die Folge war, dass die Literatur und die Verwaltungsdokumentenur noch in Latein und/oder Französisch abgefasst wurden. Andererseits wurde seit dem Ende des 12. Jahrhunderts auch im Adel das Englische zur Muttersprache, während das Französische hier zur Zweitsprache wurde (s.S. 46). Erst im 14. Jahrhundert kehrte das Englische, das nur im Wortschatz wesentlich vom Französischen beeinflusst wurde, schließlich auch in die Literatur zurück.
Die auf den ersten Blick erstaunliche Tatsache, dass in England die Eroberer im Alltag die Sprache der Unterworfenen annahmen, hing nicht nur damit zusammen, dass sie eine Minderheit waren. Wichtig war auch, dass die Normannen in der englischen Kirche nur die führenden Positionen mit Geistlichen besetzen konnten, die aus Frankreich stammten. Im zahlenmäßig starken einheimischen Klerus wurde die Erinnerung an die angelsächsische Vergangenheit lebendig erhalten, wobei die Verehrung englischer Heiliger und die große Verbreitung der englischen Kirchengeschichte des Beda Venerabilis (gest. 735) eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten. Hinzu kam, dass die normannischen Könige von England die Kontinuität zum vorhergehenden angelsächsischen Königshaus unterstrichen und mit diesem verwandtschaftliche Verbindungen knüpften (s.S. 41). So begannen sich die Nachfahren der normannischen Eroberer seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts als Engländer zu sehen.
Auch im zum lateinischen Kulturbereich gehörenden nördlichen Teil Süditaliens gelang es den Normannen, sich durch Heiraten innerhalb weniger Generationen zu integrieren. Hier war zu Beginn des 12. Jahrhunderts zwar die Oberschicht des Adels von Nachkommen normannischer Einwanderer und Eroberer dominiert; im mittleren und niederen Adel hatten hingegen viele Familien langobardischer Herkunft ihre Positionen verteidigen können. In Südapulien und Kalabrien, die von der griechisch-byzantinischen Kultur geprägt waren, ging die Integration der Normannen erheblich langsamer voran. Durch die unter Roger II. vollzogene Expansion des Königreichs Sizilien nach Norden bis an die Grenze des späteren römischen Kirchenstaats wurde das lateinische Element allerdings immer stärker, währenddie Bedeutung der griechischen und arabischen Kultur zurückging (s.S. 108).
Sowohl in England als auch in Süditalien kann man davon ausgehen, dass der Integrationsprozess höchstens 100 Jahre dauerte, was mit den Erkenntnissen der neueren Migrationsforschung übereinstimmt, nach der sich Einwanderer in der Regel spätestens nach vier
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