Die Opfer des Inzests
minimiert aber
gleichzeitig seine eigene Schuld. Wieder einmal hält er sich selbst für das
Opfer. Seine intellektuelle Neugier ist inexistent und seine kulturelle Armut
offensichtlich. Er ist unreif. Er ist in gewisser Weise ein Stiefkind, das sich
weder als Aggressor noch als Vergewaltiger sieht. Er kann die Tragweite seines
Handelns nicht ermessen, auch wenn er seine Taten anerkennt.«
Der Vorsitzende:
»Ist Ihnen bewußt, Alain Mozère, daß
sie ihre Stellung als Stiefvater mißbraucht haben?«
»Annie und ich haben uns so nahe
gestanden. Ich war mehr ihr Kumpel als ihr Stiefvater.«
»Aber Annie hat in Ihnen den Mann ihrer
Mutter gesehen. Es gab einen Generationsunterschied.«
»Ja, diesen Unterschied hätte ich
respektieren müssen.«
»Wie oft hatten Sie
Geschlechtsverkehr?«
»Vier- oder fünfmal.«
»Hat es vor dem Verkehr Annäherungen
gegeben, Streicheln, Masturbationen mit Ejakulation?«
»Ja. Annie hat nach und nach den Platz
meiner Frau eingenommen. Es war ein progressiver Vorgang.«
Martine Lucas, Ehefrau von Mozère, wird
in den Zeugenstand gerufen. Sie ist klein und hat kurze, ergrauende Haare.
Ruhig tritt sie vor, das Gesicht völlig ausdruckslos, bar jeder Emotion.
»Bis zum Sommer 1989 war alles
bestens«, berichtet sie mit monotoner Stimme. »Eines Abends war Annie zur
Essenszeit nicht zu Hause. Ich habe bei ihrem Vater angerufen, weil sie ihn oft
besucht hat. Sie sind zusammen gekommen und haben mir alles erzählt. Ich konnte
es nicht glauben. Mir war weder an meiner Tochter noch an meinem Mann etwas
Ungewöhnliches aufgefallen. Heute gilt meine einzige Sorge meinem Sohn Loïc. Er
ist zart, sehr sensibel. Er vermißt seinen Vater. Seine schulischen Leistungen
haben nachgelassen. Annie kommt uns nicht mehr besuchen und ruft auch nicht
mehr an. Dabei habe ich sie nicht zurückgestoßen. Sie war es, die jeglichen
Kontakt abgebrochen hat. Meine Tür steht ihr offen. Ich warte, daß sie zu mir
kommt. Meine Situation ist sehr schwierig. Ich lebe nur noch für den Tag, gehe
die Probleme eins nach dem anderen an. Vielleicht ist das alles ja meine Schuld...
ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich nicht wie andere Frauen. Ich habe nur
einen schwach ausgeprägten sexuellen Appetit: Mir genügt es, einmal im Monat
Geschlechtsverkehr zu haben. Und doch lief alles gut. Wir haben vieles
gemeinsam unternommen. Annie gab ihre Meinung zur Garderobe meines Mannes ab.
Für mich war es eine kalte Dusche...«
Mozère wendet den Kopf ab. Er sieht sie
nicht mehr an und bricht wieder in Tränen aus.
Der Vorsitzende:
»Madame Mozère, warum wollten sie
nicht, daß Ihr Mann gegenüber Annie väterliche Autorität ausübt?«
»Ich war ihre Mutter, und ihr Vater war
ständig für sie erreichbar.«
»Erzählen Sie uns von Ihren
Arbeitszeiten.«
»Ich arbeite seit 40 Jahren von 20 Uhr
bis 6 Uhr früh. Ich habe um den Nachtdienst gebeten, um meiner Tochter näher zu
sein, um da zu sein, wenn sie morgens aufwacht, und ihr abends bei den
Hausaufgaben zu helfen. Das ist wichtig für eine Mutter. Aber vielleicht war es
auch ein Fehler meinerseits.«
»Wie stellen Sie sich die Zukunft vor?«
»Ich denke nicht an Scheidung. Es sei
denn, mein Mann bittet darum. Ich weiß nicht, wie das Morgen aussehen wird. Ich
habe keine Zukunft. Für mich ist 1989 die Zeit stehengeblieben. Damals ist
alles in sich zusammengefallen. Ich denke nur an Loïc. Für mich stehen die
Kinder an erster Stelle. Annie braucht mich nicht so sehr wie ihr Bruder. Sie
hat ihren Vater, der sie unterstützt. Ich habe sie mir gewünscht, ich habe sie
erschaffen. Ich meine... ich habe sie zur Welt gebracht. Offenbar konnte ich
sie nicht so annehmen, wie sie ist. Ich kann ihr keinen Vorwurf machen. Das
letzte Mal habe ich sie an ihrem 21. Geburtstag gesehen. Ich wollte ihr einen
Ring schenken. Wir haben uns in einem Café getroffen; Loïc war auch dabei. Wir
haben etwas getrunken, und ich habe ihr den Ring gegeben. Es ist doch normal,
daß man seiner Tochter zum 21. Geburtstag etwas schenkt.«
Maître Crifo:
»Haben Sie den Eindruck, daß Annie ein
Trauma erlitten hat?«
»Ich habe nichts davon bemerkt. Dabei
müßte es traumatisierend gewesen sein. Aber sie hat sich nichts anmerken
lassen. Ich habe keinerlei Veränderung an ihrem Verhalten feststellen können.
Aber selbstverständlich hat sie ein Anrecht darauf, die Wahrheit bekannt zu
machen. Wenn ihr daran liegt, muß es wohl traumatisch für sie gewesen sein...
vielleicht kenne ich sie
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