Die Opfer des Inzests
Mozère?«
»Sehr freundschaftlich«, antwortet der
Lastwagenfahrer. »Wenn wir zum Aperitif bei ihnen waren, setzte sich Annie auf
die Armlehne von Alains Sessel. Sie schien ihn sehr gern zu haben.«
»Gegenseitiges Einvernehmen zwischen
einem Kind und seinem Stiefvater... was bedeutet das für sie?« hakt Maître
Crifo nach.
»Annie hatte ihren Stiefvater sehr gem.
Es war eine glückliche Familie. Das einzige Problem war die Nachtarbeit der
Mutter.«
Der Staatsanwalt meldet sich zu Wort.
»Als sie von den Vorwürfen erfahren
haben... wie haben Sie reagiert?«
»Ich habe kein Wort davon geglaubt. Ich
habe mit Alain gesprochen. Er hat es abgestritten.«
Staatsanwalt:
»Wie würden Sie den Begriff
Vergewaltigung definieren?«
»Ein erzwungener, gewaltsamer
Sexualakt.«
Staatsanwalt:
»Hätte Annie sich mit 15 Jahren einem
Mann von 35 Jahren widersetzen können?«
»Sie war reif für ihr Alter. Sehr reif.
Sie hätte sich widersetzen können. Heutzutage sind die Mädchen mit 15 - 17
Jahren Anmacherinnen. Es ist für einen Mann nicht immer leicht, ihnen zu
widerstehen. Annie hat Alain angemacht, soviel steht fest. Ich verstehe nicht,
warum sie ihn angezeigt hat.«
Alain Mozère erhebt sich und sagt mit
festerer Stimme:
»Er kann nicht wissen, was zwischen
Annie und mir gewesen ist. Ich habe es immer verheimlicht. Ich kann mein Problem
nicht erklären. Ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte, daß ich mit Annie
geschlafen habe. Ich bekenne mich dazu; ich habe Annie vergewaltigt. Aber ich
habe keine Gewalt angewendet. Ich wollte sie in die körperliche Liebe
einführen. Unsere Beziehung ist aus den Fugen geraten. Mit ihr fand ich das
Glück wieder, die Jugend, das Leben.«
Er bricht wieder in Tränen aus.
»Verzeih mir, Annie.«
Eine Cousine von Mozère, 47 Jahre,
tritt in den Zeugenstand, sehr feierlich.
»Hier wird zwei Menschen der Prozeß
gemacht, die sich in gegenseitigem Einvernehmen geliebt haben. Es ist die
Geschichte einer Zuneigung, die sich in Liebe gewandelt hat. Alain ist gar
nicht in der Lage, etwas anderes zu geben als Liebe. Er ist großzügig, sanft
und unfähig zur Gewalt. Meine Mutter und Alains Mutter sind Schwestern. Ich
habe meinen Vetter gebeten, Patenonkel meiner ältesten Tochter zu werden, weil
ich grenzenloses Vertrauen in ihn habe. Er hat sich Annie gegenüber immer
väterlich korrekt verhalten. 1983 haben wir gemeinsam Annies erste Kommunion
gefeiert. Die Beziehung zwischen Annie und Alain war freundschaftlich. Aber in
der Pubertät fühlte Annie sich dann vom anderen Geschlecht angezogen und hat
sich ihrem Stiefvater angenähert. Sie lebten unter einem Dach. Aus Zuneigung wurde
Liebe. Die jungen Leute heute sind sehr frühreif. Ich habe selbst zwei Töchter,
ich weiß also, wovon ich rede.«
Langsamen Schrittes kehrt die Cousine
an ihren Platz zurück. Der Psychiater, der seit 1992 mit dem Fall betraut ist,
nimmt ihren Platz im Zeugenstand ein.
»Mozère war sich über seine Situation
Annie gegenüber nicht im klaren«, erklärt er. »Für ihn ist bei seiner
Verhaftung eine Welt zusammengebrochen. Er verstand das alles nicht, weil für
ihn die Liebe an sich verurteilt wurde. Er weist keinerlei Perversion auf,
keine psychotische oder sexuelle Störung. Er glaubt, eine Liebesgeschichte
gelebt zu haben. Er betrachtete sich als derselben Generation wie Annie
zugehörig.«
Mozère steht erneut auf.
»Annie fürchtete sich vor der Liebe.
Sie wußte nicht, wie sie es angehen sollte. Ich habe ihr angeboten, der erste
zu sein, sie die Liebe zu lehren. Ich wollte ihr klüger erscheinen als die
Jungen ihres Alters. Ich habe sie hereingelegt.«
Der Staatsanwalt:
»Mozère besitzt einen normalen
Intellekt. Ist ihm bewußt, daß er eine strafbare Handlung begangen hat?«
Der Psychiater:
»Er hat die psychische Gewalt, die eine
Vergewaltigung beinhaltet, nicht berücksichtigt.«
Ein Psychologe ergreift das Wort:
»Mozère hat nie damit gerechnet,
inhaftiert zu werden. Er ist bei den Vergewaltigern untergebracht, was ihm sehr
zu schaffen macht. Außerdem hat er eine Klaustrophobie. Er leidet sehr. Es ist
ihm unerträglich, sich seinem Sohn in dieser Situation zu zeigen. Sein älterer
Bruder hat den Kontakt zu ihm abgebrochen. Er wirft ihm ebenso sein Verhalten
vor wie auch, daß er früher von ihrer Mutter bevorzugt wurde. Mozère sieht sich
selbst seit seiner Kindheit als Opfer und gefällt sich in dieser Rolle. Er legt
gegenüber Annie keinerlei Feindseligkeit an den Tag,
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