Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Zigarette wegwarf, als wäre sie gar nicht mehr wichtig, bevor er Betty umfasste, mit beiden Händen ihr Gesicht, heftig, zu heftig vielleicht, und dann küssten sie sich. Und sicher verblassten der im aufgehenden Sonnenlicht glänzende Weiher und das Vogelgezwitscher und entfernten sich Park, Bäume und Himmel, nahm Tom an, denn es geschah öfter seither, wenn Betty und Marc am Küchentisch einander studierten, ihre Hände oder Gesichter, dass sie dasaßen wie auf einem kleinen Pünktchen inmitten von einem großen Nichts.
Nachdem seine Probe beendet war – ein Saxofontrio mit einem selbstverliebten Solisten namens Diedrich von Jagow, der bald sein Abschlussvorspiel absolvieren würde –, ging Tom nach Hause. Er hasste Saxofone, und er hasste die Saxofonisten, dachte er auf dem gesamten Nachhauseweg. Als er in die Knaackstraße eingebogen war und sich fragte, ob er noch ein einsames Feierabendbier trinken sollte, sah er Marietta, die neben der Haustür auf einem Steinvorsprung kauerte. Sie hatte ihr winziges Gesicht in beide Hände gestützt und die Augen geschlossen, so saß sie da,als warte sie auf ihr Schicksal. Natürlich wartete sie nur auf Marc. Tom blieb einige Sekunden auf dem Bürgersteig stehen und betrachtete ihr Gesicht: Es war blass, nichts von Sommer lag darin, es schien ihr kalt zu sein, denn sie hatte ihren Jackenkragen hoch aufgestellt. Vielleicht saß sie schon viele Stunden hier.
»Hallo«, sagte Tom.
Marietta bewegte erst den Kopf, öffnete dann die Augen.
»Hallo«, sagte sie.
»Hallo«, sagte Tom, obwohl er es ja bereits gesagt hatte. Marietta zog ihren Mund in eine Form, die einem Lächeln zumindest kurzzeitig nahekam. Dann atmete sie tief ein und stand auf, was sie einige Kraft zu kosten schien. Sie lehnte mit den Schultern an der Hauswand und versuchte erneut ein Lächeln, das sie nur einige Sekunden lang halten konnte, bevor die Mundwinkel unter der Last dieser Anstrengung zu zittern begannen. Sie wandte sich ab. Ihr Pferdeschwanz tanzte bei der heftigen Bewegung ihres Kopfes.
»Ich dachte«, ihr Gesicht schnellte auf die andere Seite, »ich dachte, ich besuche Marc. Tja, da bin ich«, sagte sie und spreizte ihre Handflächen in die Luft.
Tom räusperte sich, um ein Gefühl von Mitleid loszuwerden, das ihm im Hals saß und darin aufquoll, bevor er etwas sagte. Aber Marietta wusste bereits Bescheid. Wieder bebte ihr Mund, wieder drehte sie den Kopf zur Wand, indem sie begann, mit beiden Handflächen auf das Mauerwerk zu klopfen, als wolle sie der Zeit den Takt schlagen. Sie könne ja einfach noch ein bisschen hier warten, sagte sie, klemmte die Unterlippe zwischen die Zahnreihen, dann kicherte sie schrill, als wäre es ein Heidenspaß, in der Nachtfeuchte auf einem Steinabsatz zu sitzen und zu warten. Offensichtlich hatte sie sich noch nicht entschieden,ob sie Tom gegenüber ihre katastrophale Gemütslage offen zugeben sollte oder ob sie wenigstens versuchen wollte, ein wenig Fassung zu bewahren.
»Marc wird wohl nicht mehr kommen heute«, sagte Tom. Aber die Geigerin lächelte nur, als hätte er nichts gesagt. Dann plötzlich hob sie ihre Hände, ballte sie zu Fäusten und ließ sie rechts und links neben ihren Hüften auf die Hauswand niederdonnern, zwei-, drei-, viermal, immer wieder, dass der Putz rieselte, und als Tom endlich erschrocken ihre Hände packte, die doch lieber Geige spielen sollten, sah sie ihn an mit weiten Augen, in denen nun das Wasser stieg und stieg. Er hielt ihre Handgelenke, die sich wehrten und wanden in seinem Griff, bevor die Kraft aus ihrem Körper sackte und dieses kleine Gesicht an seinem Hals lag (was er nun wirklich nie für möglich gehalten hätte) und sein Hemd nass wurde, so nass, dass er sich wunderte, wie viel Flüssigkeit eine so winzige Person nur mit den Augen produzieren konnte. Plötzlich machte sie sich los und starrte ihn an, als erkenne sie ihn erst in diesem Moment. Sie schien zu erschrecken. Sie riss den Blick noch ein wenig weiter auf, dann drehte sie sich um, ihr Pferdeschwanz peitschte ihm ins Gesicht, und sie lief davon, in die erstbeste Richtung anscheinend, denn an der Kreuzung blieb sie kurz stehen, hielt inne und eilte dann in die entgegengesetzte Richtung weiter.
LIEBESEINSAMKEIT
Marc und Betty aber schienen durch irgendeinen Riss in der allgemeingültigen Dimension in einen anderen Raum, den hermetischen Einraum der Verliebtheit, geschwebt zu sein, in demsie für den Außenstehenden zwar sichtbar, hinter der Hülle ihrer
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