Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
der Mensch wohl Musik schon immer gemacht.« Helge nickte vor sich hin und trank einen Schnaps. Tom gab Betty Feuer. Marc kniff ein Auge zu und sah mit dem anderen durch sein Schnapsglas hindurch, knapp an Betty vorbei. Er sagte laut: »Stockhausen!« Und: »Die Musik als ordnendes Prinzip in der Zeit.« Hinter dem Tresen blinkte ein strahlenbekränztes Madonnenhaupt auf. Auf der Tanzfläche knutschten zwei blonde kurzhaarige Frauen. Marc bog die Augenbrauen in die Höhe, blies sich noch weiter auf, als er sagte, der Mensch habe angefangen, Musik zu machen, aus Angst vor der Stille. Warum singe denn ein Kind, fragte er, das in den Keller gehe? Um die Stille zu übertönen, antwortete er, aber nicht aus Furcht vor Gespenstern, sondern aus Angst vor dem leeren Verstreichen der Zeit. Er klang heiser. Er öffnete sich mit dem Feuerzeug ein Bier. »Machst du mir auch eins auf?«, sagte Betty, und Marc öffnete ihre Flasche und sah über ihren Kopf hinweg zu Helge, während er sagte, dass die Zeit weit weniger entsetzlich sei, wenn geordnet. »Und deswegen hat der Mensch angefangen zu singen.«
»Und der Vogel?«, fragte Betty. »Warum singt der?«
Marc schien sie nicht gehört zu haben. Wenn überhaupt,dann hörte er mit den Augen, die groß und weit über Betty hinwegschauten, aber er schien etwas von seiner Aufgeblasenheit zu verlieren, kleiner zu werden. »Lass uns spielen«, sagte er zu Tom, und der zog Betty hinter sich her auf die Bühne. Einige Instrumente waren noch verkabelt. Er warf Betty ein Gesangsmikro zu. »Quatsch«, sagte sie, aber Tom setzte sich ans Piano, stimmte »Dance Me to the End of Love« an von Cohen, und Betty sagte: »Das kannst du vergessen, dass ich jetzt hier …«, aber, was sollte sie tun auf einer Bühne mit Mikrofon in der Hand, also sang sie. Schwebte in die Musik hinein, mit einer Stimme, so ätherisch und blau wie ein Lüftchen im Freibad, als sie nah am Mikrofon die Melodie hauchte, bis sie sich im zweiten Durchgang, als die Band die Harmonie des Stücks verlassen hatte, mehr traute, gläserne Operntöne in absolute Grenzlagen schickte, um sich dann in ein naives Pop-Säuseln zurückzulehnen, das bald experimentelleren Tönen wich, indem sie Laute und Silben rhythmisch zerhackte, gurrte und flüsterte und sich schließlich Marcs Loopmaschine nahm, um schwerelose Ennio-Morricone-Bögen, die sie mit zweiten und dritten Stimmen doppelte, endlos durch die Luft kreisen zu lassen. Das Publikum tanzte. Tom und Ulrich lächelten vor sich hin. Marc war blass, sein Blick ging ins Nichts, bemüht, den Eindruck gelangweilter Musikerprofessionalität herzustellen, der ihm aber wie eine leicht verrutschte Papp-Maske auf dem Gesicht hing.
Als sie nach Hause gingen, stieg ein neuer Tag hinter den Dächern herauf. Tom umarmte Betty zum Abschied und küsste sie auf beide Wangen, einerseits, weil er das öfter machte, andererseits als Vorlage für Marc, der danebenstand und erstaunt den Himmel betrachtete, als sähe er ihn zum ersten Mal. Aber er streckte nur hölzern die Hand aus und ergriff diejenige Bettysfür die Hälfte eines Augenblicks. Tom hatte ein Taxi herangewunken und stieg, bevor Marc etwas einwenden konnte, allein hinein und fuhr durch den zwitschernden Morgen davon. Im Rückspiegel sah er die beiden einander gegenüberstehen und immer kleiner werden.
Zu Hause ging er zum Telefon und wählte ihre Nummer. Es tutete dreimal, viermal, fünfmal. Dann nichts, der AB. Anne Hermanns’ unverbindliche Säuselstimme, der lange Signalton. Tom drückte auf die Gabel und wählte erneut. Wieder tutete es, und jetzt wurde abgenommen, eine verschlafene Männerstimme, mit einer Spur von Aufregung unterlegt, meldete sich mit: »Ja, bitte?« Als Tom durch längere Zeit schwieg, wiederholte die Stimme, lauter diesmal: »Bitte, wer ist da?«, wie es aus französischen Ehedramen im Schwarzweißfilm bekannt ist. Dann wurde aufgelegt.
Der Anrufer aber hielt noch minutenlang den Hörer in der Hand, sah ihn vorwurfsvoll an, als läge dies alles in seinem Verantwortungsbereich, bevor er das ganze Telefon nahm und zu Boden schleuderte, wo der Hörer auf den Dielen hüpfte, soweit es das Kabel zuließ. Am Morgen verbrachte er Stunden damit, das defekte Gerät auseinander- und zusammenzuschrauben und zu überprüfen, ob es wieder funktionierte, was es nicht tat, und so betrachtete er es als seine Aufgabe für diesen schönen und langen, gleichwohl einsamen Sonntag, auf dem Flohmarkt einen neuen Telefonapparat zu
Weitere Kostenlose Bücher