Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
nichts Ferneres,nichts Ungewisseres, Fremderes gibt als die nächste eigene Zukunft, das nächste eigene »morgen«, das zeitlich so nah, dem Einzelnen aber unendlich fern ist, ferner, weil unbekannter und geheimer als die entlegensten Jahrhunderte im alten Ägypten, Jahrtausende in den Wäldern des Holozän.
Die Suche der Unterkunft gestaltete sich, wie erwartet, schwierig. Das Dorf lag verschlossen und versiegelt. Sie klingelten an mehreren Häusern. Schließlich antwortete ein krachendes Geräusch aus einer Gegensprechanlage: Eigentlich nicht, war die Auskunft, eigentlich wirklich nicht, weil ja keine Saison sei, aber wenn sie folgenden Preis bezahlten und so fort, dann, so die Hausfrau, richte sie die Zimmer im oberen Stock, mit Dusche und WC auf dem Flur, Panoramablick.
Während er in seinem Einbett-Zimmer unter dem Dach stand und den teuer bezahlten Panorama-Blick nutzte, indem er in das Nachleuchten des verglühenden Tages über dem schattenhaften Bergmassiv starrte, wartete Tom, dass es bitte vorüberginge, ohne zu wissen, was es eigentlich genau war, das vorübergehen sollte. Als die Nacht alles in Dunkelheit erstickt hatte, hörte er Schritte, Knarren der Dielen, und mit geschlossenen Augen wünschte er sich Betty, ohne es zu wollen. Betty, nur für einen Moment, ihre Hand vielleicht, das kurze Hüpfen ihres Mundwinkels unmittelbar vor einem Lächeln mit gesenktem Kopf, wie es auf ihrem Gesicht vorkam, wenn er einen Witz gemacht hatte, den sie nicht wirklich gelungen fand. Aber es war Marc. Er blieb neben ihm am Fenster stehen, und sie standen, wie sie schon oft schweigend nebeneinander an Fenstern gestanden hatten, obwohl man draußen gar kein Panorama mehr sah. Marc bot ihm eine Zigarette an.
»Ich will auch nicht zurück.«
Tom nickte, ohne etwas zu erwidern, dankbar, dass ihn sein Freund missverstand. Aber es war schon das zweite Mal an diesem Tag, stellte er entsetzt fest, dass ihr Schweigen nicht einem geteilten Gefühl entsprang, für das es vielleicht keine Worte, sondern nur einen Blick aus dem Fenster gab, sondern ein getrenntes Schweigen war, das jeder für sich schwieg. Marc aber drückte seinen Arm: »Gute Nacht, Tom, ich weck dich morgen.«
Als er sich, in der Gewissheit nicht schlafen zu können, ins Bett legte, versuchte er, nachzudenken, eine Strategie zu entwickeln, aber alles, was ihm einfiel, war, dass Liebe ganz gewiss kein Gedanke sei, wie Breitenbach behauptete, sondern im Gegenteil, dass die Liebe jeden Gedanken zerstörte. Die Liebe zerstörte alles. Andererseits, sagte er sich, ist die Liebe schließlich noch immer vergangen, hat noch jedes Mal den Kampf gegen die Zeit verloren. Liebe ist kein Einrichtungsgegenstand, den man zwischen Fenster und Sofa in den Raum hinstellt für die Ewigkeit, sondern Liebe, wie er aus Erfahrung weiß, ist etwas Vorübergehendes, eher eine flüchtige Lichtstimmung, die zufällig in einem Zimmer entsteht, wenn sich das Sonnenuntergangsrot draußen für einen Augenblick so mit einer Lampe oder einer Kerze drinnen vermischt, dass ein unwirkliches Leuchten an Fußboden und Wänden entsteht, bevor es verlischt. Also abwarten! Entweder verlischt die Liebe bei Marc oder bei ihm selbst oder bei beiden, dachte er. Sie vergeht wie eine Krankheit. Liebe ist zwar kein Schnupfen, aber auch kein Krebs, Liebe ist irgendetwas zwischen Schnupfen und Krebs, dachte er und wandte den Blick vom Fußende seines Bettes zum Nachttisch hinüber, wo ein Radiowecker seine grünen Ziffern in die Dunkelheit warf, zwei Uhr morgens.
Beim Einschlafen hatte er Betty unter den Lidern, und ihre Knie öffneten sich wie zufällig unter einem Rock, ihre Schenkel vibrierten durch die Bewegung des Autos. Als er aufwachte, sagte er sich, dass es so schlimm offensichtlich ja nicht sein konnte. Es war 6.58 Uhr. Noch war es still im Haus. Aber ein Hahn krähte irgendwo. Das kleine Zimmer stand jetzt hell, klar und scharfkantig im Tageslicht. Er setzte sich auf, ging zum Fenster, wo tiefblauer Himmel hing, in den der dunkle, lang gestreckte Corvatsch ein Loch riss. Nachdem er sich angezogen hatte, rauchte er seine Morgenzigarette und ging im winzigen Zimmer auf und ab. Er lernte es sehr gut kennen in den folgenden Stunden, dieses schweizerische Alpenzimmer. Holzgeschnitzte Gemütlichkeit mit Corvatsch-Massiv im Bilderrahmen des Fensters. Und die Geräusche lernte er kennen, bald stehend, bald liegend, bald gehend. Die große Stille, wenn auch seine eigenen knarrenden Schritte verstummten,
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