Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
doch von hinten. Der Keilriemen klingt zudem völlig anders.«
Tom aber beharrte auf dem Keilriemen, auch wenn er insgeheim wusste, dass Marc recht hatte und es natürlich der Auspuff war, weil Marc immer recht hatte in allem und sich neuerdings auch mit Autos auskannte.
Marc pfiff jetzt irgendeine Melodie vor sich hin. Ansonsten fuhren sie schweigend, bis Tom einfiel, dass sie dringlich umkehren sollten, Betty abholen und zurückfahren, heute schon, das Auto in die Werkstatt bringen, den Keilriemen machen lassen, am besten irgendwo in Österreich, weil billiger, und dann nach Hause. Aber Marc schüttelte den Kopf, lachte, wieder zu laut, wie Tom fand, vielleicht, um das Röhren des Autos zu übertönen. »Du willst dich ja nur vorm Wandern drücken«, rief er, »vergiss es!«
SCHNEE
Sie verfahren sich zweimal, weil Tom mit der Karte auf den Knien die Himmelsrichtungen verwechselt, oben ist unten, rechts ist links. Nie sind ihm geographische Behauptungen willkürlicher erschienen als an diesem Morgen, und wenn die Erde wirklich eine Kugel ist, wie gesagt wird, wäre es ohnehin gleichgültig, in welche Richtung sie führen. Marc aber beharrt kleinkariert auf dem kürzesten Weg. Er will zum Morteratsch-Gletscher,wo es bekanntlich Eishöhlen gibt. Marc, der an allem, sogar an Eishöhlen und deren Entstehung, Interessierte, der immerzu und an allem Interessierte, er nimmt nun die Routenplanung selbst in die Hand, beugt sich über die Karte und fährt nicht einmal um die Erde, sondern auf direktem Weg zum Parkplatz des Morteratsch-Gletschers, wo außer ihnen nur ein Mercerdes aus Hildesheim parkt.
Nachdem er den Motor abgestellt hat, bleibt er sitzen und streicht sich, als wäre er plötzlich unschlüssig geworden oder als wolle er etwas sagen, einige Male mit der Hand durchs Haar, bevor er doch ohne ein Wort aussteigt, die Tür viel zu fest zuschlägt, so dass der Wagen schwankt und mit ihm das Vanilleduftbäumchen des Vaters, das Tom plötzlich so sehr aufregt, dass er es abreißt und aus dem Fenster wirft. Er bleibt noch einen Moment sitzen, dann steigt er aus.
Inzwischen hat Marc den Auspuff untersucht. Der Auspuff ist eventuell locker oder hat ein Loch, nichts Großes, das zu beheben in zwei Tagen ausreicht, wenn sie wieder in Deutschland sind. Marc trägt seine Sonnenbrille, darin spiegelt sich der Berg, Piz Bernina, weiß gegen das dunkelblaue Segeltuch des Himmels. Und von der Spitze herab ins Tal gegossen ein Fluss aus Schnee, der Gletscher. Tom steht und atmet die hohe, kristallene Luft, die sicherlich dünn ist, wie man sagt, atmet die Stille.
Es gibt Augenblicke, die kurz sind, ebenso kurz wie andere Augenblicke, und auf der Zeitleiste eine winzige Markierung darstellen, dafür aber weit in die Tiefe einer nichtzeitlichen Dimension hineinragen, Augenblicke, in denen man vieles auf einmal, übereinander, durcheinander oder gar nichts denkt. Augenblicke, in denen die Zeit kein fließender Strom ist, sondern ein gefrorener, auf dem man mit Gummistiefeln herumlaufenund ein trichterförmiges Loch in die Tiefe des Eises schlagen kann. Ein solch eisiger Augenblick, wird Holler später denken, ist die Piz-Bernina-Ansicht gewesen, in Marcs Sonnenbrille, einem lilafarbenen Achtziger-Jahre-Modell, gespiegelt, worüber er froh gewesen ist, über die kühne Landschaft, die ihn anstelle von Marcs Augen anzublicken schien.
Nachdem der tiefkurze Moment vorüber ist, lässt Tom es sich nicht nehmen, selbst noch einmal unters Auto zu sehen, bückt sich, betastet den heißen und schmutzigen Auspuff, verbrennt sich die Finger. Marc reicht ihm ein Taschentuch, er säubert seine Hände, sie gehen los. Es ist ein breiter Wanderweg in der Ebene, »Kinderwagenweg«, sagt Tom, was als Provokation gemeint ist. Marc aber lacht nur. Rechts und links des Kieswegs ragen die Hänge der Moränen, vom Eisstrom tief in die Erde gegraben, bevor er sich langsam zurückgezogen hat. Kein Baum, kein Vogelzwitschern. Der Weg liegt im Schatten. Links und rechts schweigendes Geröll, in der Ferne aber leuchten im Sonnenlicht die weißen Gipfel wie saubere, warme, aufgeschüttelte Kissen. Im Abstand von einigen hundert Metern hat die Schweizer Touristikindustrie auf dem steinigen Weg Informationstafeln zum Thema »Gletscherentwicklung« aufgestellt, außerdem Markierungstafeln mit Jahreszahlen, die das Schwinden des Eises aufgrund der globalen Erwärmung veranschaulichen. 1900 endete es hier, an der Zugstation Morteratsch, 1930 schon dort,
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