Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
clothes?«
»Oh yes«, sagt er. Er hat aber bisher nichts anprobiert. Immerhin hat er sich schon die Hose ausgezogen. Es könnte also theoretisch losgehen. Aber er bleibt sitzen und tut nichts, als zu schwitzen, was er willentlich nicht beeinflussen kann, genauso wenig wie in diesen Momenten das Denken. Immer wieder denkt er: Was geschehen ist, ist geschehen. Alles ist eine Kette von Kausalitäten. Weil er sich die Hose ausgezogen hat, sitzt er in Boxershorts, hat Marina ihren Kopf aus der Kabine gezogen,steht sie vor der Kabine, statt darin, wenn sie überhaupt Marina heißt.
Was geschehen ist, ist geschehen. Wozu dann ein Konjunktiv II?, fragt er sich. Andererseits: Wozu dies, wozu das auf der Welt? Sicher gibt es unsinnigere Dinge als einen Konjunktiv II. Hosen mit Bügelfalten beispielsweise, winzige Musikabspielgeräte, Krankheiten.
Den Konjunktiv II muss es geben, denkt er, weil die Menschen von Natur unglücklich, unzufrieden, ja verzweifelt sind, sobald sie ihre eigene Existenz mit Hilfe ebenjenes Konjunktivs II in Frage stellen und solcherweise erkennen können, dass sie viel weniger Probleme hätten, wenn sie nicht da wären, was zu nichts führt, aber immerhin die Zeit vertreibt.
Wäre ich beispielsweise 1997 mit Marc im Auto sitzen geblieben, nach Luzern gefahren, denkt Holler, in Unterhose in der römischen Umkleidekabine sitzend, hätte mich in Luzern gelangweilt, anstatt am Comer See, wir wären nach unserer Rückkehr vielleicht nicht ins Engadin hinaufgefahren, stattdessen am Comer See hängengeblieben, hätten uns gelangweilt unter Pinien, einen Tag lang, Musil lesend oder nicht lesend, wären dann nach Berlin zurück, hätten dann weitergelebt, und wenn es auf einem Kreuzfahrtschiff gewesen wäre, aber weitergelebt in irgendeiner Form, denkt er in der Umkleidekabine, wie er es bereits millionenfach gedacht hat. Und schon wieder ist eine Minute vergangen, auch wenn es sinnlos ist, da die Vergangenheit nicht durch das »ich hätte« ausgedrückt wird, sondern durch das »ich habe«. In allen Sprachen, wenigstens in all jenen, die er ansatzweise kennt, wird die Vergangenheit durch das Wort »haben« gebildet. Ich habe dieses, ich habe jenes. Die Vergangenheit, obgleich wir sie verloren haben, istalso ein Besitz, denkt er erstaunt und lächelt seinem Spiegelbild zu.
»Mister«, Klopfen, »sorry, but you can’t smoke here, please.«
»Mister« hört sich gut an, muss er denken. »Yes!«, sagt er. Leider hat er keine Ahnung, wo er die Zigarette ausdrücken könnte, aber Marina streckt ihm ein Porzellanschälchen herein.
»Thank you!«
Plötzlich glaubt er zu wissen, was Nietzsche mit seiner Wiederkehr gemeint hat. Er drückt die Zigarette ins Porzellanschälchen. Die Erinnerung. Dieses leiernde, immer dasselbe abspielende Erinnerungsvermögen des Menschen. Diese alte, abgenudelte, auf dem kreisenden Plattenteller des Gedächtnisses immer an einem Punkt hängen bleibende Langspielplatte.
Vor dem Vorhang räuspert sich leise Marina. Unter dem Spalt hindurch sieht er ihren Schatten, der sich zögernd entfernt. Schon wieder hätte er große Lust zu rauchen, aber weil er hier ist, um Kleider einzukaufen, entschließt er sich, endlich eine der Hosen anzuziehen. Er zieht sie an, er zieht sie wieder aus, zieht die nächste an, zieht sie aus, setzt sich wieder auf seinen Hocker und starrt in sein Spiegelbild und fragt sich auf einmal, ob Betty ihn überhaupt erkennen wird. Plötzlich fürchtet er den Augenblick des Wiedersehens, das kurze Erschrecken ihrerseits, das sie, was ihm nicht entgehen wird, schnellstens zu verbergen suchen wird hinter höflichen Gesten, Fragen.
Er betastet sein Gesicht. Der Übergang vom Kinn zum Hals droht bereits konturlos zu werden, obwohl er abgenommen hat im letzten halben Jahr, aber dennoch verwischen die Linien. Er nimmt sich vor, nicht zu trinken bis Neapel. Er nimmt sich vor, auch mal Salat zu essen. Er probiert eine weitere Hose an. Wieder beugt Marina den Kopf herein. Sie hat Kämmchen im Haarund eine Lücke zwischen den Schneidezähnen (wie Hedda), denkt er, darüber hinaus diese heisere Stimme, Flamencostimme, die aber nicht zu ihrer Haarfarbe passt.
»Singen Sie?«, fragt er.
»Pardon?«
»Do you sing?«, fragt er.
Sie lacht, schüttelt den Kopf.
»Schade«, sagt er, während sie ihn am Handgelenk nach draußen ins Licht zerrt, vor einen hohen Spiegel, der sicherlich schlank machen soll, es aber nicht tut. Sie zupft und zerrt, an seinem Hintern, an den
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