Die Päpste: Herrscher über den Glauben - von Petrus bis Franziskus - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
nur Pius XII . vom Unfehlbarkeitsdogma Gebrauch – 1950 bei der Verkündigung des Dogmas von der Assumptio Mariae, der leiblichen Himmelfahrt der Gottesmutter. Aber seit dem Ersten Vatikanischen Konzil lässt sich bei den Päpsten das Interesse beobachten, die Unfehlbarkeitslehre immer weiter auszudehnen. In einer offenen, pluralistisch bunten Welt, die Papst Benedikt XVI . gern als »Diktatur des Relativismus« kritisierte, soll wieder unbedingte Verbindlichkeit erzeugt werden.
Der lateinische Begriff »infallibilitas« hat eine sehr lange, komplizierte theologische Geschichte. Ins Deutsche wurde er zumeist als Untrüglichkeit, Irrtumsfreiheit oder Unfehlbarkeit übertragen. Die Historie des Begriffs und die Deutungskämpfe um seine angemessene Auslegung hängen eng zusammen mit der Geschichte des Papsttums als zentraler Institution des lateinischen, okzidentalen Christentums.
Schon im 4. Jahrhundert hatten die Bischöfe von Rom den Anspruch erhoben, dass ihre Dekrete für die gesamte Kirche, auch für die östlichen, orthodoxen Kirchen, verbindlich seien. Sie sahen sich als Nachfolger des Petrus und erfanden die Tradition, dass Jesus von Nazareth selbst das Petrusamt gestiftet habe und Petrus der erste Bischof der römischen Gemeinde gewesen sei. Fiktionen schaffen Fakten. Wer in der Kirche Macht ausüben will, braucht theologische Legitimation. Deshalb entwickelten viele Theologen Lehren von einem ganz eigenen, außergewöhnlichen Amtscharisma, das den Bischof von Rom über die anderen Bischöfe der Christenheit erhebe.
Eine besondere Lehre vom Amt des Papstes entstand. Der Papst sei Stellvertreter Christi auf Erden, Hirte der Gesamtkirche und Haupt des Bischofskollegiums. Nach und nach kamen weitere Titel hinzu: Als Nachfolger des Apostelfürsten sei der Papst »Diener der Diener Gottes« und »Patriarch des Abendlandes«. Später wurde er auch als Primas Italiens und monarchisches Staatsoberhaupt seines eigenen Staates, des Kirchenstaates, verehrt. Sein Amt beruhe auf direkter göttlicher Einsetzung und diene dem gottgewollten Zweck, die Einheit der Kirche zu stärken.
Der Bischof von Rom sieht sich bis heute selbst als Prinzip und Fundament der Einheit der Kirche. Und in der Ausübung seiner potestas, seiner Amtsgewalt und Macht, ist er zwar an das Recht der Kirche gebunden. Aber er darf laut Kirchenrecht selbst »entsprechend den Erfordernissen der Kirche darüber bestimmen, ob er dieses Amt persönlich oder im kollegialen Verbund mit den anderen Bischöfen ausübt«. Mit diesem Rechtssatz kann selbst ein ganz starker päpstlicher Absolutismus als kirchlich legitim gelten. Denn es ist allein der Papst, der entscheidet, was zu einem bestimmten Zeitpunkt die wahren »Erfordernisse der Kirche« sind. Von Pius IX ., der 1867 das Erste Vatikanische Konzil einberief, stammt denn auch das absolutistische Credo: »Die Tradition bin ich.«
FRIEDRICH WILHELM GRAF
Ist einer der profiliertesten Theologen Deutschlands. Der Protestant lehrt Systematische Theologie und Ethik in München; besonders interessiert ihn die Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts. Mit zahlreichen Büchern wie »Die Wiederkehr der Götter« (2004) oder »Kirchendämmerung« (2011) hat Graf, Jahrgang 1948, zur Glaubensdebatte beigetragen.
Im Sprachgebrauch der Theologen war infallibilitas zunächst Gott und der Wahrheit des Evangeliums vorbehalten. Gott ist die Wahrheit, also irrtumsfrei, und auch für sein Evangelium gelten inerrantia und indefectibilitas. Schon im Mittelalter übertrugen einzelne Theologen dann die Vorstellung von der Unfehlbarkeit Gottes und seines Evangeliums auf die Kirche: Sofern die Kirche mit dem Beistand des Heiligen Geistes die Wahrheit des Evangeliums verkünde, sei sie selbst eine Institution der Wahrheit, geprägt von Unfehlbarkeit und Irrtumsfreiheit.
Im 13. Jahrhundert entwickelten einige Theologen dann die Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche zu einer Speziallehre von der Unfehlbarkeit des Papstes in Fragen des Glaubens und der Sitte fort. Das blieb nicht ohne Protest. Einige Kirchenlehrer behaupteten, dass nur feierliche Beschlüsse eines ökumenischen Konzils als infallibel gelten könnten. In der Bulle »Quia quorundam« wurde die Lehre von der päpstlichen Infallibilität 1324 als teuflisches Denken verurteilt. Aber es setzte sich durch.
Je mehr die Päpste neben geistlichen auch weltliche, politische Machtansprüche erhoben, desto stärker musste die besondere Amtsautorität des römischen
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