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Die Päpstin

Titel: Die Päpstin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Hilfe an das Kloster von Lorsch. Nach zwei Tagen erschien ein heilkundiger Mönch
     und untersuchte Matthias, schüttelte ernst den Kopf und murmelte irgend etwas vor sich hin. Zum erstenmal erkannte Johanna,
     daß der Zustand ihres Bruders möglicherweise ernst war. Der Gedanke war erschreckend. Der Mönch ließ Matthias reichlich zur
     Ader und setzte sein gesamtes Repertoire an Gebeten und gesegneten Amuletten ein. Doch an Mariä Verkündigung war Matthias’
     Zustand bedrohlich. Er war vom Fieber völlig benommen und wurde von dermaßen schrecklichen Hustenanfällen geschüttelt, daß
     Johanna sich die Ohren zuhielt, um es nicht mit anhören zu müssen.
    Den ganzen Tag und die darauffolgende Nacht wachte die Familie am Krankenbett. Johanna kniete neben ihrer Mutter auf dem festgestampften
     Lehmfußboden. Die Veränderung in Matthias’ Erscheinungsbild machte ihr schreckliche Angst. Sein Gesicht war dermaßen ausgezehrt,
     daß die Haut sich über den Knochen spannte und die vertrauten Züge zu einer entsetzlichen Fratze verzerrte, und unter der
     fiebrigen Rötung war ein beängstigender grauer Unterton zu erkennen.
    Über ihnen, in der Dunkelheit, klang die monotone Stimme des Dorfpriesters hinaus in die Nacht, als er Gebete für die Errettung
     seines Sohnes sprach.
»Domine sancte, pater omnipotens, aeterne Deus, qui fragilitatem conditionis nostrae …«
    Johanna nickte schläfrig.
    »Nein!«
    Bei dem klagenden Schrei ihrer Mutter erwachte sie schlagartig.
    »Er ist tot! Matthias, mein Sohn!«
    |34| Johanna schaute auf das Bett. Nichts schien sich verändert zu haben. Matthias lag so regungslos da wie zuvor. Dann aber fiel
     ihr auf, daß seine Haut die fiebrige Röte verloren hatte; sie war vollkommen grau – die Farbe von Gestein.
    Johanna nahm die Hand des Bruders. Sie war schlaff und schwer, aber nicht mehr so heiß wie zuvor. Johanna hielt sie ganz fest
     und drückte sie an ihre Wange.
Bitte, sei nicht tot, Matthias.
Wenn er tot war, würde sie nie mehr neben ihm und Johannes in dem großen Bett schlafen können; sie würde nie mehr erleben,
     wie er an seinem Schreibpult aus Fichtenholz saß, die Stirn vor Konzentration gefurcht, wenn er seine Texte studierte; sie
     würde nie mehr neben ihm sitzen, während seine Finger sich über die Seiten der Bibel bewegten und dann und wann innehielten,
     um Worte zu bezeichnen, die Johanna laut vorlesen sollte.
Bitte, sei nicht tot.
     
    Nach einer Weile schickten sie Johanna aus dem Zimmer, damit ihre Mutter und die Frauen des Dorfes Matthias’ Körper waschen
     und in ein Leichenhemd aus Leinen kleiden konnten. Als die Frauen fertig waren, durfte Johanna wieder ans Bett kommen und
     ihrem Bruder die letzte Ehre erweisen. Von der unnatürlichen grauen Farbe seiner Haut abgesehen, hatte es den Anschein, als
     würde Matthias schlafen. Johanna stellte sich vor, daß er aufwachen würde, wenn sie ihn berührte; daß seine Augen sich öffnen
     und sie so liebevoll und verschmitzt wie früher anschauen würden, so, als wäre alles nur Verstellung gewesen. Sie küßte ihn
     auf die Wange, wie die Mutter sie angewiesen hatte. Die Haut war kalt und seltsam hart, so wie die Haut des toten Kaninchens,
     das Johanna erst letzte Woche aus dem Erdschuppen geholt hatte. Rasch zog sie den Kopf zurück.
    Matthias gab es nicht mehr.
    Nun würde es auch keine Unterrichtsstunden mehr geben.
     
    Sie stand neben dem Viehpferch und betrachtete die Flecken dunkler Erde, die allmählich unter der schmelzenden Schneeschicht
     zum Vorschein kamen. Es war jenes Fleckchen Erde, in das Johanna ihre ersten Buchstaben gezeichnet hatte.
    »Matthias«, flüsterte sie. Sie sank auf die Knie. Der feuchte Schnee durchdrang ihren wollenen Umhang, bis sie die Nässe auf
     der Haut spürte. Ihr war sehr kalt, aber sie konnte nicht |35| zurück ins Haus. Erst mußte sie etwas erledigen. Mit dem Zeigefinger malte sie die vertrauten Buchstaben aus dem Johannesevangelium
     in den feuchten Schnee.
    Ubi sum ego vos non potestis venire.
»Dort, wo ich bin, könnt ihr nicht hingehen.«
     
    »Wir alle werden Buße tun«, verkündete der Dorfpriester nach Matthias’ Beisetzung, »um Vergebung für unsere Sünden zu erbitten,
     die den Zorn Gottes auf unsere Familie herabbeschworen haben.« Er hieß Johanna und Johannes, sich in schweigendem Gebet auf
     das harte Brett zu knien, das als Familienaltar diente. Dort verharrten sie ohne Essen und Trinken den ganzen Tag bis zum
     Anbruch der Dunkelheit;

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