Die Päpstin
gewesen.
»Nein«, beharrte Johannes. »Ich bin nicht so wie Matthias. Hast du gewußt, daß Vater ihn nach Aachen schicken wollte, um seine
Aufnahme an die
scola palatina
zu erbitten?«
»Wirklich?« Johanna war erstaunt. Die Palastschule zu Aachen! Sie hatte gar nicht gewußt, daß der Vater mit Matthias so hochfliegende
Pläne gehabt hatte.
»Und ich kann noch nicht einmal Donatus lesen. Vater hat gesagt, daß Matthias Donatus schon beherrscht hat, als er erst neun
Jahre alt war, und ich bin zehn. Was soll ich tun, Johanna? Was soll ich nur tun?«
»Na ja …« Johanna versuchte, sich eine Antwort einfallen zu lassen, um den Bruder zu beruhigen, doch die Anstrengungen der
letzten zwei Tage hatten Johannes in einen Zustand apathischer Furcht versetzt.
»Er wird mich schlagen. Ich weiß, er wird mich schlagen.« Jetzt begann Johannes laut zu weinen und zu jammern.
»Ich will aber nicht geschlagen werden!«
Stirnrunzelnd erschien Gudrun im Eingang. Nach einem nervösen Blick in den Raum hinter ihr eilte sie zu Johannes hinüber.
»Hör auf. Möchtest du, daß Vater kommt? Hör sofort auf, sag ich dir!«
Unbeholfen robbte Johannes vom Altar, warf den Kopf in den Nacken und plärrte. Als hätte er die Worte seiner Mutter gar nicht
gehört, weinte er herzzerreißend, wobei ihm die Tränen über die heißen, rotgefleckten Wangen liefen.
Gudrun packte Johannes’ Schultern und schüttelte ihn. Sein Kopf ruckte heftig vor und zurück; seine Augen waren geschlossen,
und sein Mund stand offen. Johanna hörte das scharfe Klicken der Zähne, als seine Kiefer aufeinanderschlugen. Verdutzt öffnete
Johannes die Augen und blickte die Mutter an.
|38| Gudrun umarmte ihn und zog ihn an sich. »Du wirst jetzt nicht mehr weinen. Um deiner Schwester willen – und um meinetwillen
– darfst du nicht mehr weinen. Alles wird gut, mein Sohn. Aber dann mußt du jetzt ruhig sein.« Sie wiegte den Jungen, besänftigte
ihn und wies ihn gleichzeitig zurecht.
Johanna beobachtete die Szene nachdenklich. Sie erkannte die Wahrheit in den Worten ihres Bruders. Johannes war kein besonders
kluges Kind. Nie und nimmer konnte er in Matthias’ Fußstapfen treten.
Doch ihr Gesicht rötete sich vor Erregung, als ein plötzlicher Gedanke sie mit der Kraft der göttlichen Offenbarung durchfuhr.
»Was ist mit dir, Johanna?« Gudrun hatte den eigenartigen Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Tochter gesehen. »Ist dir nicht gut?«
Gudrun war besorgt, denn die bösen Geister, die das Fieber brachten, suchten ein bestimmtes Haus für längere Zeit heim, wie
sie wußte.
»Nein, Mama. Aber ich habe eine Idee. Eine wundervolle Idee!«
Gudrun seufzte ergeben. Dieses Mädchen steckte voller Ideen, die sie allerdings nur in Schwierigkeiten brachten.
»Ja?«
»Vater wollte, daß Matthias zur Aachener Palastschule geht.«
»Ich weiß.«
»Und jetzt möchte er, daß Johannes an Matthias’ Stelle die Schule besucht. Deshalb weint Johannes, Mama. Er weiß, daß er es
nicht schaffen kann, und er hat Angst, daß Vater wütend auf ihn ist.«
»Ich weiß. Und?« fragte Gudrun verwirrt.
»
Ich
könnte zu der Schule gehen, Mama. Ich könnte Matthias’ Studien weiterführen.«
Für einen Augenblick war Gudrun zu schockiert, als daß sie hätte antworten können.
Ihre
Tochter, ihr kleines Mädchen, das Kind, das sie am liebsten hatte – der einzige Mensch, dem sie die Sprache und die Geheimnisse
ihres Volkes anvertraut hatte – ausgerechnet
dieses
Kind wollte die heiligen Bücher der christlichen Eroberer studieren? Es schmerzte Gudrun tief, daß Johanna so etwas auch nur
in Erwägung zog.
»Was für ein Unsinn!« sagte sie.
»Ich kann hart arbeiten«, beharrte Johanna. »Ich lese gern, und ich lerne gern. Ich kann es schaffen. Und dann braucht |39| Johannes nicht dorthin zu gehen, wo er’s doch nicht möchte.« Johannes, der den Kopf noch immer an die Brust der Mutter gedrückt
hielt, gab einen gedämpften Schluchzer von sich.
»Aber du bist ein Mädchen. Solche Dinge sind nichts für dich«, sagte Gudrun abweisend. »Außerdem würde dein Vater es niemals
gutheißen.«
»Aber Mama! Das war früher. Die Dinge haben sich geändert. Siehst du das denn nicht? Vielleicht denkt Vater jetzt anders darüber.«
»Ich verbiete dir, mit deinem Vater über diese Sache zu reden. Offensichtlich hat es dich und deinen Bruder wirr im Kopf gemacht,
daß ihr auf Essen und Schlaf verzichten mußtet. Sonst würdest du nicht solchen
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