Die Päpstin
Unsinn reden.«
»Aber wenn ich ihm nur zeigen dürfte, daß ich …«
»Schluß jetzt! Ich will nichts mehr davon hören!« Gudruns Stimme klang endgültig.
Johanna verstummte. Sie griff in ihre Tunika und umklammerte das Medaillon mit dem Bildnis der heiligen Katharina, das Matthias
ihr geschnitzt hatte.
Ich kann Latein lesen, und Johannes kann es nicht,
dachte sie hartnäckig.
Warum sollte es eine Rolle spielen, daß ich ein Mädchen bin?
Sie ging zur Bibel, die auf dem kleinen hölzernen Schreibpult lag, hob das Buch in die Höhe, spürte sein Gewicht und das vertraute
Gefühl des rauhen Einbands. Der Geruch nach Holz und Pergament, den sie so eng mit Matthias in Verbindung brachte, ließ sie
an ihre gemeinsame Arbeit denken, an alles, was er sie gelehrt hatte, und alles, was er sie noch hatte lehren wollen.
Vielleicht, wenn ich Vater zeige, was ich gelernt habe … vielleicht erkennt er dann, daß ich es schaffen kann.
Wieder einmal spürte sie, wie eine Woge der Erregung in ihr aufstieg.
Aber es könnte Ärger geben. Vielleicht wird Vater sehr wütend.
Und der Zorn ihres Vaters ängstigte Johanna; sie war oft genug von ihm geschlagen worden, um seine Zornesausbrüche und die
Kraft seiner Wut zu kennen und zu fürchten.
Unschlüssig stand sie da und betastete gedankenversunken die glatte Oberfläche des hölzernen Einbands der Bibel. Dann, einem
impulsiven Entschluß folgend, schlug sie das Buch auf – und blickte auf die ersten Seiten des Johannesevangeliums, jenes Textes,
den Matthias sie zuerst zu lesen gelehrt hatte.
Das ist ein Zeichen,
ging es Johanna durch den Kopf.
Ihre Mutter hatte ihr den Rücken zugekehrt und hielt Johannes |40| in den Armen, dessen Schluchzer zu einem trostlosen, verzweifelten Schluckauf abgeklungen waren.
Jetzt ist die beste Gelegenheit.
Johanna nahm die aufgeschlagene Bibel und ging mit ihr in den angrenzenden Raum.
Ihr Vater saß gebeugt auf einem Stuhl, den Kopf gesenkt, die Hände vors Gesicht geschlagen. Er bewegte sich nicht, als Johanna
auf ihn zutrat. Von plötzlicher Angst erfüllt, blieb sie stehen. Die Idee war lächerlich, unmöglich; Vater würde niemals seine
Einwilligung erteilen. Johanna wollte den Raum schon wieder verlassen, als ihr Vater die Hände vom Gesicht nahm und den Kopf
hob. Johanna stand vor ihm, die aufgeschlagene Bibel in den Händen.
Ihre Stimme war nervös und zittrig, als sie zu lesen begann:
»In principio erat verbum et verbum erat apud Deum et verbum erat Deus.«
Es gab keine Unterbrechung, kein Stocken. Johanna las weiter, und je länger sie las, desto zuversichtlicher wurde sie. »Alle
Dinge wurden von Gott gemacht; und ohne ihn ist nichts, das gemacht wurde. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht
der Menschen. Und das Licht leuchtete in der Dunkelheit, und die Dunkelheit begriff es nicht.« Die Schönheit und Macht dieser
Worte erfüllten sie, geleiteten sie und gaben ihr Kraft.
Schließlich gelangte sie zum Ende. Johannas Gesicht war vor Stolz und Aufregung gerötet; sie wußte, sie hatte ihre Sache gut
gemacht. Sie blickte auf und sah, wie ihr Vater sie anstarrte.
»Ich kann lesen. Matthias hat es mir beigebracht. Wir haben es geheim gehalten; deshalb hat niemand davon gewußt.« Atemlos
sprudelte sie die Worte hervor. »Ich kann dich zu einem stolzen Mann machen, Vater. Ich weiß, daß ich es kann. Gib mir die
Erlaubnis, Matthias’ Studien weiterzuführen, und ich …«
»Du!«
Die Stimme ihres Vaters bebte vor Zorn. »Du warst es!« Anklagend richtete er den Zeigefinger auf Johanna. »
Du
warst diejenige!
Du
hast den Zorn Gottes auf uns herabbeschworen. Du widernatürliche Kreatur! Du Wechselbalg!
Du hast deinen Bruder ermordet!
«
Johanna stockte der Atem. Mit erhobenem Arm kam der Dorfpriester auf sie zu. Johanna ließ die Bibel fallen und warf sich herum,
wollte entfliehen, doch er packte sie, zerrte sie |41| herum und schmetterte ihr die Faust mit solcher Wucht auf die Wange, daß sie durchs Zimmer geschleudert wurde, mit dem Rücken
an die gegenüberliegende Wand prallte und sich heftig den Kopf stieß.
Dann stand ihr Vater über ihr. Johanna krümmte sich in Erwartung eines weiteren Schlages. Nichts geschah. Augenblicke vergingen;
dann hörte sie, wie ihr Vater erstickte Laute von sich gab, die rauh und heiser aus seiner Kehle aufstiegen. Johanna erkannte,
daß er weinte. Noch nie hatte sie ihren Vater weinen sehen.
»Johanna!« Gudrun kam herbeigeeilt und warf einen
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