Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
müde, müder, als sie es je gewesen war. Ein Kloß des Kummers stieg ihr in die Kehle, und sie war unfähig, etwas zu sagen. »Bitte verzeih mir, Maerad«, bat Cadvan. »Ich wollte mich nicht über deine Unwissenheit lustig machen. Wüsstest du mehr, wärst du vielleicht schon tot. Mir scheint durchaus möglich, dass deine Ahnungslosigkeit dich vor den Blicken derer bewahrt hat, die dir andernfalls Böses gewollt hätten.« Er lächelte sie an, und Maerad lächelte matt zurück, wenngleich sie nicht recht verstand, wovon er redete. »Soll ich mich eine Weile als wandernder Weissänger verdingen?«, schlug er vor. »Wir könnten die heutige Nacht für eine Einführung nutzen. Das würde uns die Zeitvertreiben.« »Na schön«, gab Maerad zurück und musterte den in Schatten gehüllten Mann neben ihr. »Erzählt mir von der Gabe.«
Sie hatten einen langen Weg zu bestreiten, aber sie kamen trotz Felsblöcken und losen Steinen, die ständig die Gefahr eines verstauchten Knöchels bargen, gut voran. Die letzten Spuren des Tageslichts verglommen in den Bergen, und die dunkle Zeit vor dem Aufgang des Mondes hielt Einzug. Maerads Beine fühlten sich vor Erschöpfung bleiern und wund an, doch die Unterhaltung lenkte ihre Gedanken von ihrem Unbehagen ab.
»Wo soll ich anfangen?«, sagte Cadvan. »Was ist die Gabe? Wie soll ich das beantworten, wenn es niemand wirklich weiß?« Er setzte ab, als sammelte er die Gedanken. »Nun, diejenigen, die mit der Gabe gesegnet sind, ähneln den Weissängern von Afinnil. Alle Barden besitzen die Gabe, was bedeutet, dass sie bestimmte Kräfte und Fähigkeiten haben. Am bedeutsamsten davon ist die Hohe Sprache.« Er setzte ab. »Barden erlernen die Hohe Sprache nicht, sie lebt bereits in ihnen, wenn sie geboren werden. Auf den Lippen jener, denen die Gabe innewohnt, haftet der Hohen Sprache eine natürliche Kraft an; sie stellt die Quelle unseres Wissens und eines Großteils unserer Macht dar. Kraft der Gabe überdauern wir die dreifache Länge eines gewöhnlichen Lebens. Gemessen an herkömmlichen Normen bin ich bereits ein alter Mann, obwohl du das vermutlich nicht annimmst.« »Ein alter Mann?«, meinte Maerad und betrachtete Cadvan zweifelnd. Er erschien ihr keineswegs alt; sie hätte ihn auf etwa fünfunddreißig geschätzt. Kurz überlegte sie, ob er sich all das vielleicht ausdachte, doch dann fiel ihr wieder ein, wie er sie und sich selbst unsichtbar gemacht hatte.
»Nicht alt für einen Barden«, erwiderte Cadvan lächelnd, »trotzdem alt genug. Ein langes Leben ist ein zweischneidiges Schwert, glaub mir. Aber es gibt noch andere Anzeichen. Ein Barde erkennt andere Barden - so habe auch ich dich erkannt. Heute Morgen dachte ich einen Lidschlag lang, meine Macht hätte mich gänzlich im Stich gelassen, als du mich angesprochen hast.« Er fasste sich an die Brust. »Mir ist das Herz stehen geblieben! Aber dann sah ich deine Augen…«
Maerad sah ihn an und war erneut unsicher, was er meinte oder ob sie lachen sollte. Dabei bemerkte sie, dass Cadvan, während er redete, ständig auf der Hut war, wenngleich auf eine ihr fremde Art und Weise. Er schaute sich nie um oder zurück, aber er schien innerlich auf etwas zu lauschen, das sie nicht zu hören vermochte, als flösse in ihm eine Musik, die zuweilen größter Aufmerksamkeit bedurfte. Es fühlte sich ein wenig merkwürdig an, so als wäre er nur halb da.
»Es gibt vieles, das du über Barden und das Licht wissen solltest«, fuhr Cadvan fort. »Die Gabe zu besitzen und nicht zu wissen, was sie bedeutet, kann schrecklich sein.« Er begann in einem sonderbar förmlichen Tonfall zu reden, der sich fast wie ein Sprechgesang anhörte und sie anfangs beinahe zum Lächeln brachte. Unaufgefordert drängte sich ihr das Bild einer Steinhalle mit hohen Fenstern auf, in der zahlreiche Leute im Kreis saßen und tief in Gedanken versunken die Häupter neigten. Das Bild verpuffte, und sie sah sich um, ließ den Blick in die leere Nacht und über die düsteren Schatten der Gebirgslandschaft wandern. Indes hallte Cadvans Stimme stetig durch die Dunkelheit.
»So wisse, Maerad, dass in Annar und den Sieben Königreichen die Barden damit betraut sind, das Licht zu behüten. Die Horte des Wissens sind die Schulen, doch das war nicht immer so. Vor vielen Menschenleben war der Hort der Überlieferungen Afinnil, die Feste des Liedes, errichtet, als die ersten Weissänger nach Annar kamen. Manche sagen, eine schreckliche Kälte habe sie aus ihrer
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