Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
erkundigte sich Maerad. Ein schmerzlicher Schatten huschte über Cadvans Züge. »Wir sind noch ein wenig nah, um darüber zu sprechen«, meinte er. Danach schwieg er eine ganze Weile. In der Stille spürte Maerad wieder die beklemmende Wirkung ihrer Umgebung. Inzwischen waren etwa drei Stunden seit dem Sonnenuntergang verstrichen. Das Mondlicht erhellte die steilen Kanten der Berge mit einem weißen Schimmer und tauchte die Schluchten in undurchdringliche Schatten. In der Ferne vermeinte sie ein leises Heulen und Kreischen zu hören. Auch fand sie, dass Cadvans Gesicht Spuren einer großen Belastung zeigte, wenngleich seine Stimme nichts dergleichen verriet. Maerad erinnerte sich an seine Erschöpfung an jenem Morgen und daran, dass er gesagt hatte, er sei verletzt. Allerdings sah sie keine Anzeichen einer Wunde. Schließlich wagte sie eine weitere Frage. »Glaubt Ihr, ich könnte eine Bardin werden?«
»Hast du denn gar nichts von dem gehört, was ich dir erzählt habe?«, gab Cadvan kurz angebunden zurück. Maerad warf ihm einen verstimmten Blick zu. Ihre Füße begannen vor Schmerzen zu pochen. Sie marschierte schweigend weiter und fragte sich, ob sie dieses verwunschene Talje verlassen würden. Plötzlich hielt Cadvan inne und keuchte. Schweiß stand auf seiner Stirn.
»Maerad«, sagte er. »Ich muss dich um Geduld bitten. Ich liege im Widerstreit mit dem Geist dieses Ortes, der uns nicht weglassen will. Er setzt mir zu, und es wird schlimmer, je weiter wir gehen.«
Nach kurzer Zeit setzte er den Marsch fort, allerdings langsamer, so als watete er durch tiefes Wasser. Besorgt stellte Maerad fest, dass sie noch einen weiten Weg vor sich hatten, bevor sie das Tal hinter sich lassen würden. Sie selbst spürte nichts, abgesehen von einem wachsenden Gefühl der Furcht. Sie wagte nicht zu sprechen. Das Gehen gestaltete sich schwierig, zumal sie sich mittlerweile einen Pfad zwischen Felsbrocken und von den Berghängen gerutschtem Geröll bahnen mussten, und bisweilen verschwand der Weg völlig. Maerads Stiefel waren zerrissen, ihre Füße wund und voller blauer Flecken. Außerdem machte ihr zum ersten Mal in jener Nacht die Kälte zu schaffen. Sie schien ihr ins Mark zu kriechen und in ihren Gelenken Kristalle zu bilden, die jede Bewegung erschwerten. Allmählich versank Maerad in einem Albtraum der Erschöpfung, und sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit nur noch darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der Ausgang des Tales rückte näher und näher, aber im selben Maße steigerte sich die Kälte, und Cadvans Schritte wurden immer langsamer.
Schließlich konnte er nicht mehr weiter. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht, und seine Mundwinkel zuckten. »Maerad«, stieß er heiser hervor. »Ich muss mich ausruhen, nur kurz.« Langsam schien er regelrecht in sich zusammenzufallen. Unwillkürlich streckte Maerad den Arm aus und ergriff seine Hand.
Unvermittelt spürte sie es: einen kalten, grausamen Willen, der ihren Verstand wie ein Schraubstock zu zermalmen drohte. Sie ließ seine Hand los, als hätte die Berührung sie versengt.
»Was « war das?«, flüsterte sie.
Erstaunt musterte Cadvan sie.
»Du kannst es spüren?«, fragte er.
»Ich fühle etwas«, bestätigte sie und zuckte zusammen. »Etwas Entsetzliches …« »Nimm noch einmal meine Hand«, forderte er sie auf. Furchtsam sah Maerad ihn an und wich jäh zurück. Cadvans Berührung hatte ihr das Gefühl vermittelt, ein bösartiges Bewusstsein dringe in ihren Verstand ein, erbarmungslos und grauenerregend.
Keuchend stieß Cadvan die Luft aus, dann wappnete er sich, um weiterzuatmen, wie ein Mann, der Schmerzen leidet. Er streckte ihr die Hand entgegen und sprach in gemessenem Tonfall. »Maerad, im Augenblick halte ich den gesamten Berg davon ab, über unseren Köpfen einzustürzen. Vielleicht kannst du mir helfen. Nimm meine Hand!«
Widerwillig griff Maerad danach und umfasste sie. Seine Finger waren kalt wie Eis. Das Empfinden kehrte zurück, diesmal noch schlimmer. Cadvan umklammerte sie heftig, als wäre er am Ertrinken.
»Dräng es zurück«, forderte er sie auf. »Befiel ihm, sich zurückzuziehen.« Maerad war verwirrt. Was meinte er damit? Dräng es zurück!
Der Befehl schien nicht laut ausgesprochen zu werden, sondern in ihrem Kopf widerzuhallen. Es war Cadvans Stimme. Inmitten der unheilvollen Dunkelheit, die ihren Verstand umnebelte, wirkte seine Stimme wie ein Licht, eine kleine weiße Flamme… Dieser wandte sie sich zu und
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