Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
fasziniert und verwirrt. »Wie wurde er denn dann genannt?«
Cadvan lachte. »Dieser Hexer besitzt immer noch einen Gebrauchsnamen, obwohl er selten ausgesprochen wird. Für gewöhnlich wird er als >der Namenlose< bezeichnet. Jeder Barde besitzt einen geheimen Namen«, fuhr er fort. »Du kennst meinen Namen nicht. Du kennst noch nicht einmal deinen eigenen. Einem Barden wird sein Name bei der Aufnahme verliehen, wenn er in seine Macht eingeweiht wird; er ist, wenn man so will, jemandes wahrer Name in der Ursprache. Er sagt aus, wer man ist. Ihn abzulegen ist so, als verstoße man sich selbst.«
»Aber das ist unmöglich!«, warf Maerad ein. »Wie kann man nicht derjenige sein, der man ist?«
»Leider ist das ganz und gar nicht unmöglich«, entgegnete Cadvan. »Der König wies seinen Namen zurück, weil er dadurch auch den Tod zurückweisen konnte. Aber mit der Gabe des Todes verwarf er gleichzeitig das Wissen derer, die sterben, und er stellte fest, dass sein Herz sich leer anfühlte - ein schärferer Schmerz, als er ihn je zuvor gekannt hatte. Denn er gehörte nicht zu den Unsterblichen und hatte daher kein Anrecht auf die Todeslosigkeit. Er blickte auf die Welt hinaus, und sein Blick war dunkel. Also trachtete er nach der Herrschaft über alles auf Erden und nach der Zerstörung all dessen, was ihm durch seine Schönheit widerstrebte. Er forderte das Gesetz des Gleichgewichts heraus. Dann marschierte er mit bewaffneten Heerscharen und Schwarzen Zauberern -jenen verderbten Barden, die wir Untote nennen - gegen die prächtige Zitadelle von Afinnil. Er riss ihre wunderschönen Türme ein und verdunkelte die See, auf dass der Mond sich nicht mehr darin badete und die Sterne vor seinem leblosen Antlitz flüchteten. Danach begann die Große Stille, und das Lied ward in den Weiten der Länder von Annar nicht mehr gehört.
Das war nicht die einzige seiner Missetaten, aber sie zählte zu den schlimmsten. Damals gingen viele Dinge für die Welt unwiederbringlich verloren.«
Cadvan seufzte. Maerad lauschte ihm schweigend, überwältigt vor Verwunderung, nicht nur über die Geschichte, sondern auch über die süße Erregung, die jene Bezeichnungen in ihr zu erwecken begannen: Afinnil, Weissänger, das Licht. Sie erinnerten sie stark an den Geruch und die Stimme ihrer Mutter, wenn sie die Leier zupfte, an ihr dunkles, herabfallendes Haar, wenn sie Maerad küsste, und an andere Dinge aus ihrer Erinnerung, die sie nicht nachzuvollziehen vermochte. Auch sie seufzte, dann sah sie sich um. Sie befanden sich auf halbem Weg das Tal hinab. Uber ihnen funkelten Heerscharen von Sternen um einen zunehmenden, fast vollen Mond. Sie suchte die Fünf Juwelentöchter, die hoch über ihnen ihrem unablässigen Tanz frönten. Ilion war mittlerweile hinter dem Horizont versunken.
Cadvan stand auf. »Wir sollten weitergehen«, sagte er.
Maerad rappelte sich auf die Beine, und sie setzten den langsamen Marsch durch das Tal fort. Maerad spürte, wie ihre Erschöpfung zurückkehrte, doch sie zwang sich weiter, während Cadvan sich wieder dem Unterricht zuwandte.
»Die Geschichte vom Untergang des Namenlosen ist lang, hart und voller Verzweiflung«, fuhr er fort. »Begnügen wir uns damit zu sagen, dass er letztlich besiegt wurde. Nach seinem Sturz errichteten die Barden die Schulen, in denen das Wissen um das Licht gehütet und überall in Annar und den Sieben Königreichen weitergegeben wird. Der Mittelpunkt all dieses Wissens ist nunmehr Norloch, ein wunderschöner Ort mit Gärten und hohen Hallen. In einer Hinsicht allerdings unterscheidet sich Norloch von Afinnil: Norloch ist von Mauern umgeben und für eine große Garnison ausgestattet, damit die Unschuld, die Afinnil zum Verhängnis wurde, nicht neuerlich zu einer Schwäche werden kann. Und das ist der vermutlich größte Verlust, den der Namenlose herbeigeführt hat, wenngleich manche dem widersprechen und meinen, Norloch übertreffe mit seiner Pracht sogarjene uralte Zitadelle.«
»Seid Ihr schon einmal dort gewesen?«, wollte Maerad wissen, als er verstummte. »Ja«, antwortete Cadvan. »Viele Male. Ich gehöre keiner Schule mehr an und reise nach Bedarf zwischen ihnen hin und her. Das Licht ist abermals in Gefahr. Barden werden auf gefährliche, geheime Pfade entsandt, um die Spur der Finsternis aufzunehmen, statt auf althergebrachte Weise über die Blätter des Frühlings zu singen und den Fortschritt zu fördern.«
»Wart Ihr deshalb in der Nähe von Gilmans Feste?«,
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