Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
Heimat vertrieben; andere meinen, sie seien aus einem versunkenen Land hierher gesegelt; wieder andere behaupten, sie seien einfach hier unter den Menschen aufgetaucht. Wie die Wahrheit auch aussehen mag, unsere Herkunft ist im Reich der Legenden versunken. Woher sie auch kamen, die Barden erschienen in Annar und brachten die Überreste eines uralten Wissens vom Anbeginn der Welt mit: die Gabe des Sprechens, des Lesens, des Erschaffens und des Behütens: die Fähigkeiten und Kenntnisse, die man die Künste des Lichts nennt. Und hier wurde die große Stadt Afinnil erbaut, die in den Tagen der Vorzeit den Hort des Wissens darstellte.
Viele Lieder berichten von ihrer unerreichten Pracht, von den mauerlosen Türmen, die sich wie Lilien neben der See, neben dem reinen Antlitz gesegneten Wassers erhoben. Und injener Feste weilten die Weissänger, all jene, die der Welt Schönheit liebten und pflegten. Die Hohe Sprache war allumfassend, und alle verstanden einander.« Cadvans Stimme verlagerte sich leicht und ging in einen Singsang über. Maerads Herz pochte schneller. Sie konnte sich gar nicht erinnern, wann sie zuletzt ein neues Lied gehört hatte. Trotz ihrer freudigen Überraschung stellte die Musikantin in ihr nüchtern fest, dass Cadvan einen sehr guten Bariton besaß.
Gefallen in Finsternis, tiefer als Herzensweh,
Alle Stimmen beweinen dich, niedrige, hohe,
In der Sprache der Bäume, der Tiere, der Menschen,
In der Bardensprache beweinen sie dich,
O Schatten des Mondlichts, aus Marmor gewoben,
O Blume aus Eis, die das Sonnenlicht küsste,
O Chor, aus tausend Kehlen gesungen.
In Afinnil, o Afinnil,
Der Traum ist verloren, die Leier still,
Wo die Türme einst ragten, wächst Dornengerank,
Und im Schattensee dunkel dein Licht versank.
»So besinnt man sich der Stadt im Lied, als Schmerz, als Erinnerung an etwas Wunderbares, das jetzt für immer verloren ist. Die Geschichte über ihren Untergang ist entsetzlich. Dennoch musst du sie kennen, wenn du die Barden verstehen willst. Denn die Gaben des Lichts waren leider ihr eigenes Verderben.«
Maerad stolperte abermals, und diesmal fiel sie. Sofort rappelte sie sich wieder auf. Cadvan blieb stehen. »Geht es dir gut?«, erkundigte er sich.
»Ja«, herrschte sie ihn verärgert an und presste die Hände aufeinander, die sie sich an den Steinen aufgeschunden hatte.
Cadvan bedachte sie mit einem scharfen Blick. »Du hast dich nicht ausgeruht, und das nach einem zweifellos schweren Arbeitstag«, stellte er fest. »Wir müssen zwar weiter, aber vielleicht können wir jetzt ein Weilchen rasten, um danach umso schneller voranzukommen.« Damit setzte er sich an Ort und Stelle auf den Boden. Dankbar ließ sich Maerad neben ihm nieder. Ihre Beine zitterten. Cadvan öffnete sein Bündel und holte eine Flasche daraus hervor. »Das hilft gegen die Müdigkeit«, erklärte er. Zuerst trank er selbst einen Schluck, dann bot er die Flasche Maerad an. Der Inhalt schmeckte wie Wasser, allerdings mit einem Hauch von Kräutern. Ein feuriges Kribbeln fegte durch ihren Körper, und ein Teil ihrer Erschöpfung hob sich jäh hinfort. In der lautlosen Düsternis fühlte sich das Tal bedrückend still an, und als Cadvan wieder das Wort ergriff, zuckte Maerad um ein Haar zusammen. »Wie ich schon sagte, ging Afinnil teilweise durch seinen eigenen Großmut unter. Im Süden stieg ein König auf, der sich davor fürchtete, wie gewöhnliche Menschen zu sterben, und stattdessen nach dem ewigen Leben trachtete, befreit vom Los des Kreislaufs der Welt. Er gierte nach den Kräften des Lichts und wollte sie für sich selbst haben. Also verhehlte er seine wahre Absicht, trat an die freundlichen Barden von Afinnil heran und bat um Geleit. Da in ihren Herzen kein Argwohn hauste, gewährten sie es ihm mit Freuden. Er erwies sich als gelehriger Schüler und wurde mit der Zeit mächtiger in der Beherrschung der Hohen Sprache, feinfühliger im Umgang mit den Überlieferungen, begabter in der Kunst des Erschaffens und Aufhebens als jeder andere vor ihm. Nachdem er der Ansicht war, genug gelernt zu haben, kehrte er in sein Land im Süden zurück, das Königreich Den Raven.
Die Absicht hinter dem Wissen um das Licht besteht darin, Schönes zu schaffen, Wachstum zu ermöglichen, das geheiligte Gleichgewicht zu halten. Dieser König aber beugte das Wissen für seine Zwecke. Sein erster Fehltritt war, seinen Namen abzulegen.«
»Wie kann man seinen Namen ablegen?«, fragte Maerad, gleichermaßen
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