Die Pension am Deich: Frauenroman
Hüften. Alles verspannt. Sie muss dringend eine Pause machen. Erst einmal durchatmen und einen Tee trinken.
Es sind ja nur noch ein paar Handgriffe, und die Frühstückspension ist wieder einzugsbereit. »Kunststück, wenn man nachts durcharbeitet«, brummt sie zynisch und geht am Flurspiegel vorbei, ohne sich eines Blickes zu würdigen. Dabei hat sie zurzeit ihr absolutes Traumgewicht. Es interessiert sie nicht.
Die Küche ist schmal geschnitten. Ein großes Fenster, darunter ein Tisch und zwei Stühle. Alles angenehm frei gehalten. Kein unnötiger Tand. Bis vor drei Jahren war hier jedes Regal, jede mögliche Fläche vollgestellt gewesen. Ihre gesamte Wohnung hatte an einen gutsortierten Geschenkartikelladen erinnert. Herzen, Schleifen, Vasen, Tonfiguren und Teddys. Teddys in allen erdenklichen Größen. Nachdem Gerold gestorben war, hatte sie angefangen, aufzuräumen und wegzuwerfen. Tomke kann sich nicht mehr vorstellen, wie sie die ganzen Nippes staubfrei gehalten hat.
Sie setzt Wasser für Tee auf. Am liebsten würde sie einen Grog trinken. Sie schüttelt streng den Kopf. Nee, das lass mal lieber sein, Tomke. Alkohol hatte sie die ersten Tage in sich hineingeschüttet, um dun zu bleiben. Gott sei Dank haben sich in der Zeit weder Juliane noch ihr Sohn Torben blicken lassen. Dann hatte ihr Magen verrückt gespielt. Tomke musste sich zusammenreißen und den Rum weglassen. Bevor sie in dem schwarzen Loch verschwand, das ihr schon bedrohlich entgegengrinste, hatte sie sich in Arbeit gerettet. Sie beschloss: Die Frühstückspension wird renoviert. Sie würde wieder Gäste aufnehmen. Leben ins Haus holen. Ganz davon abgesehen braucht sie das Geld. Mit ihrer Witwenrente kann sie keine großen Sprünge machen und eine Berufsausbildung hat sie nun einmal nicht. Sich irgendwo einen Aushilfsjob suchen, dafür ist sie verdorben. Sie war immer selbstständig.
Tomke schaut aus dem Fenster. Juliane fährt den Wagen temperamentvoll aus der Einfahrt auf die Deichstraße. Sie sieht nicht mehr zur Seite. Tomke lächelt unfroh. Nee, mein Mädchen. Es ist absolut nicht alles in Ordnung. Aber was hätte sie ihrer Tochter erzählen sollen? Etwa: In ein paar Tagen beginnt der Wonnemonat Mai, und am zweiten wollte ich heiraten! Ganz romantisch im Pilsumer Leuchtturm. Es sollte eine Überraschung werden. Eine richtig große Feier. Ihr hättet mich schon verstanden, auch wenn euer Vater noch nicht so lange unter der Erde liegt. Da bin ich sicher.
Sie gießt das kochende Wasser in die Kanne und stellt sie auf das Stövchen.
Es ist gut, dass sie es geheim gehalten hat. Es ist gut. Es ist gut, wiederholt Tomke den Satz wie ein Mantra. Nur Teresa aus Hannover hat sie ins Vertrauen gezogen. Aber die wohnt weit genug weg und wird sie nicht mit unnötigen Fragen quälen. Auch nicht mit Vorwürfen. Sonst weiß niemand von Paul. Tomke schluckt hart gegen die neu aufkommenden Tränen an. Ja, das ist gut so. Niemand weiß von ihm, niemand fragt nach ihm. Als hätte es ihn nie gegeben.
Aber es gab ihn. Zehn Jahre lang. Sie war zehn Jahre lang mit einem verheirateten Mann zusammen. Hätte sie das ihrer Tochter erzählen können? Nee, bestimmt nicht. Tomke kann sich gut vorstellen, was dann käme: Verheiratet? Aber Mama! Wie konntest du so naiv sein? Oder vielleicht: Wie konntest du so etwas seiner Frau antun? Und zehn Jahre? Du bist doch erst seit drei Jahren Witwe! Was ist mit Papa? Richtig gerechnet, liebe Tochter, müsste sie dann antworten. Paul und ich haben uns schon zu Gerolds Zeiten regelmäßig getroffen. Dein Vater war nämlich – wie soll ich mich da ausdrücken? Nun, ich will nicht um den heißen Brei herumreden: Er war impotent. Und er wollte über das Thema nicht sprechen. Auch nichts dagegen unternehmen. Wie ich damit klarkomme, hat ihn nicht interessiert. Irgendwann fiel mir eine Zeitungsanzeige in die Hände. Ein Mann suchte eine Frau, um Sex mit ihr zu haben. Nur Sex. Keinen bezahlten. Auf der Basis gegenseitigen Genusses ohne Verpflichtung. Ich weiß noch, wie ich die Zeitung mit der Annonce empört in den Papierkorb geschmissen habe. Nachmittags habe ich ihn wieder herausgesucht und die Nummer angerufen. So habe ich Paul kennengelernt. Er hatte ein Apartment in Wilhelmshaven. Dort haben wir uns einmal in der Woche getroffen. Wir wollten unser Privatleben draußen lassen. Jede Verantwortung. Das hat ein paar Jahre lang funktioniert. Erstaunlich gut. Aber wir sind uns immer näher gekommen. Vielleicht näher, als es in
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