Die Pension am Deich: Frauenroman
eine. Zehn Jahre sind kein Pappenstil. Traurig! Paul hat es genossen, eine verliebte, glückliche Frau neben sich zu haben, die sich auf die gemeinsame Zukunft freut. Das wollte er nicht hergeben. Er wusste, Tomke wollte keinen unverbindlichen Sex mehr. Sie war frei. Sie hat Gefühle investiert und sie hat keinen Hehl daraus gemacht. Paul war derjenige, der angefangen hat zu lügen. Mit seinem zustimmenden Schweigen. So ist aus ihrer fairen Beziehung eine ganz gewöhnliche Ehebruchkiste geworden.
Heute Morgen hat sie einen Strich unter die Ära Paul gezogen. Sie hat sich ihr schönes Haar abschneiden lassen. Der kurze Putz steht ihr nicht. Das weiß sie. Genau aus dem Grund wollte sie ihn haben.
Tomke sieht zum Deich hoch. Badegäste spazieren munter darauf entlang. Nach dem langen, harten Winter sind sie dankbar für zehn Grad plus und trocken von oben. Es soll sogar fast auf zwanzig klettern. Richtig warm. Ein bisschen Frühling. Aber pünktlich zum ersten Mai haben sie wieder nasses und kaltes Wetter angesagt. Von mir aus, denkt Tomke.
Sie hat für ihre Hausgäste einen Aufenthaltsraum eingerichtet. Gerade bei Schietwetter wichtig. Außerdem hat sie jetzt genug Platz, um das Frühstück als Büffet anzubieten. Dann können sich ihre Gäste selbst bedienen. Das ist einfach der Trend. Noch lieber hätte sie in der ersten Etage Apartments einbauen lassen. Aber dafür fehlt ihr das nötige Kleingeld.
Tomke lehnt sich auf die Fensterbank. Sie wird das schon schaffen. Und sie wird sich nicht so schnell wieder abhängig machen. Was heißt, nicht so schnell? Nie wieder!
Ein Mann geht an ihrem Haus vorbei. Er fällt ihr auf, weil sonst alle auf dem Deich langgehen, um den weiten Blick übers Meer zu genießen. Seiner sucht nicht den Himmel. Er schaut nach unten. Wahrscheinlich ein Mann mit Hund.
Kapitel 2
Hameln Ende April 2010
Anne
Anne lässt die Finger über der Tastatur ruhen und sieht aus dem Fenster. Gelbe Schlieren auf den Scheiben erschweren die Sicht. Blütenstaub, denkt sie und zieht grimmig ihre dunklen Augenbrauen zusammen. Auf der anderen Straßenseite stehen prächtige Birken. Ihre Kronen biegen sich gerade unter einem Windstoß. Jede Bewegung lässt Millionen Pollen frei. Diese fiesen, winzigkleinen Angreifer, die Anne zwingen, in der Wohnung hocken zu bleiben. Sie würde sowieso hier sitzen. Es ist ihre beste Schreibzeit. Aber im April ist ihrer Entscheidung jede Freiwilligkeit genommen. Dann ist es Hausarrest. Verschärfter. Sogar die Fenster müssen geschlossen bleiben. Dabei sehnt Anne sich nach Sonne, frischer Luft und einer weit geöffneten Balkontür. Der fühlbaren Verbindung zur Außenwelt, wenn sie hier auf ihrem Platz sitzt und schreibt. Das kann sie laut Pollenvorhersage vorerst streichen. Die letzten Tage des Aprils sollen noch einmal richtig schön werden, verkünden die Sprecher im Radio mit wachsender Begeisterung. Anne hat sich oft genug über die Pollenflugvorhersage hinweg gesetzt und gehofft, die Allergie würde sie vergessen, wenn sie nur nicht mehr an sie denkt. Einfach wie gewohnt weitergelebt und die blühende Invasion ignoriert. Fehlanzeige. Die Abfolge ist jedes Jahr die gleiche. Erst jucken die Augen, dann läuft die Nase. So massiv, dass ihr manchmal die Taschentücher nicht reichen und sie ein Handtuch braucht. Der Höhepunkt des Pollenangriffes ist die Eroberung ihrer Bronchien. Ihr Brustkorb wird immer enger, und jeder Atemzug verschlimmert die Umklammerung. Ein Asthmaanfall. Sie hat längst wirksame Medikamente dagegen zu Hause liegen. Aber die Bedrohung schwebt wie ein Damoklesschwert über Anne und bestimmt in diesem Monat ihr Handeln.
Sie schaut wieder auf den kleinen Bildschirm und probiert, sich zu konzentrieren. Ihre junge Heldin weilt gerade am Meer. Eine lauschige Sommernacht, nur ein sanfter Wind aus Westen. Neben ihr steht der Mann, den sie seit Wochen zu treffen versucht. Endlich ist es soweit. Der Showdown des Rendezvous läuft. Normalerweise fühlt Anne beim Schreiben ein Kribbeln, als stünde sie selbst kurz vor der ersten Berührung, dem ersten Kuss. Das intensive Riechen und Aufnehmen des anderen. Das scheinbare Einfrieren der Zeit. Diesen Augenblick lässt sie ihre Leserinnen – Anne ist klar, dass ihre Hauptklientel Frauen sind – so lange wie möglich auskosten. Doch heute spürt sie trotz geschlossener Fenster und arbeitender Pollenfilter nur ein Kribbeln in der Nase. Sie bemüht sich, ruhig dagegen anzuatmen, aber die befürchtete
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