Die Pension am Deich: Frauenroman
ist.
Als sie das Tuch zögernd herunterlässt, begegnet sie sich im Spiegel. Kein aufbauender Anblick. Ihre Nase ist rot und doppelt so groß wie gewöhnlich. Ihre schönen braunen Augen sind unter den geschwollenen Lidfalten fast verschwunden. Anne sieht aus, als hätte sie jemand gewürgt, und mindestens zehn Jahre älter, als sie ist. Genauso fühlt sie sich. Da können auch die langen, prachtvollen Locken nichts mehr herausreißen.
Heilfasten, denkt sie bitter. Wie sie diese Ratschläge leid ist. Sie braucht in dieser Hinsicht keine. Anne hat bereits alle erdenklichen ausprobiert. Die Allergie ist geblieben. Entschlossen öffnet sie das Badezimmerfenster einen Spalt. Scheißegal. Ihr geht es so oder so schlecht. Gierig atmet sie den frischen Luftzug ein. Elstern fliegen laut streitend am Fenster vorbei. Anne mag ihr zänkisches Gehabe nicht. Es scheint jedes Jahr mehr von ihnen zu geben. Irgendwann gibt es nur noch Elstern. Die Klanghölzer ihres Nachbarn werden vom Wind bewegt. Anne mag ihre Melodie. Sie klingt fernöstlich und erinnert an buddhistische Mönche. Bei der Vorstellung muss sie in sich hineingrinsen. Gelassenheit passt so gar nicht zu ihren Nachbarn. Sie sind beide ungeheuer fleißig. Emsige Bienen, immer beschäftigt. Ohne den Honig jemals zu genießen. Sollen sie, denkt Anne. Solange sie sich nicht über ihre Ökowiese aufregen. Das tun sie nicht. Sie kämpfen stillschweigend gegen die herüberfliegenden Samen an und stechen Gänseblümchen und Löwenzahn aus. Sie vertikutieren ihren Rasen fast bis zur Grasnarbe, um Wiesenklee und Hahnenfuß auszumerzen. Zweimal haben sie sogar schon den Garten komplett umgegraben und neu ausgesät. Ohne Erfolg. Ihr erhoffter englischer Rasen wird regelmäßig wieder bunt besamt und zur Wiese degradiert.
Die Überlegungen haben Anne abgelenkt und stimmen sie sanfter. Sie geht zurück, schenkt sich noch ein Glas Wasser ein und setzt sich wieder vor den kleinen Rechner. Sie liebt es, in der Küche zu arbeiten.
Bevor sie sich wieder zu Mareile und Leonard in die lauschige Sommernacht an den Strand gesellt, schaut sie routinemäßig in den Posteingang. Werbung. Sie will sie schon löschen, als sie die Überschrift liest: » Taschentücher versandkostenfrei!«
Unwillkürlich starrt Anne aus dem Fenster. Woher wissen die von ihrem erhöhten Taschentuchverbrauch? Sie sieht noch einmal auf den Bildschirm und liest: Taschenbücher versandkostenfrei! Sie muss über ihre Halluzination laut lachen.
»Na, deine Laune ist ja wieder gestiegen«, kommt der prompte Kommentar. Lisette ist unbemerkt in die Küche gekommen. Dieses Mal, um sich ein Brot zu schmieren und dick mit Käse zu überbacken.
»Ja«, erwidert Anne trocken. »Ich habe gerade meinen Roman zu Ende geschrieben.«
»Super!«, lobt Lisette, während sie sich den Gouda großzügig zurechtschneidet. Ja, das wäre in der Tat super, denkt Anne. 100.000 Zeichen in einer halben Stunde. Warum rede ich überhaupt noch über meine Arbeit?
Lisette befördert ihre präparierte Schnitte in die Mikrowelle und setzt sich für einen Augenblick mit an den Küchentisch.
»Marie ist eine Woche ganz allein. Ihre Eltern sind kurzfristig verreist. Und du weißt ja, Marie hat Schiss nachts im leeren Haus. Ich habe ihr versprochen, dass ich in der Zeit bei ihr schlafe. Das ist doch okay, oder?«
Anne nickt resigniert. Soll sie für eine Woche zu ihrer Freundin ziehen. Sie kann Lisette nicht festhalten und ihr vorjammern, dass sie auch nicht gern allein ist. Schon gar nicht im April.
Die Locken ihrer Tochter umarmen für einen Augenblick ihre, dann schnappt sie sich ihr überbackenes Brot und wirbelt zurück in ihr Zimmer.
Anne stellt sich ein Schälchen mit Schokostückchen neben den Laptop. Vielleicht bringt sie ein wenig Nascherei bei der Liebesszene weiter. Genussvoll lässt sie ein Stückchen Schokolade im Mund zergehen. Aber statt auf ihren Text schaut sie wieder aus dem Fenster. Der Wind hat zugenommen. Zarte Wolkenschleier werden rasend schnell weitergeschoben. Dahinter liegen Schäfchenwolken. Unzählig viele. Zwei Himmel hintereinander, denkt Anne fasziniert und gibt Impressionen an der Nordsee in die Suchmaschine ein. Die könnten sie in die richtige Stimmung bringen. Sie schiebt sich das nächste Stückchen Schokolade in den Mund. Wangerland. Tomkes Frühstückspension. Gemütlich und zentral am Meer gelegen. Ich hole meine Gäste gern vom Bahnhof ab.
Kapitel 3
Hannover Ende April 2010
Monika und
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