Die Perlenzüchterin
schon. Dann gebe ich Lizzie jetzt einen Gutenachtkuss und gehe danach gleich zu Biddy. Und da ich zu Fuß hier bin, nehme ich noch ein Glas von diesem exzellenten Roten. Danke, Harlan.«
»Keine Hektik, Biddy döst zwischendurch immer mal ein. Aber manchmal lebt sie wieder in der Vergangenheit statt in der Gegenwart«, sagte Rosie. »An die Vergangenheit scheint sie sich oft deutlicher zu erinnern als an gestern.«
Biddy ging auf die neunzig zu, was für eine Aborigine, die ihr ganzes Leben hart gearbeitet hatte, eine ziemliche Leistung war, fand Lily. Wie viel Stadtgeschichte mochte mit ihrer Lebensgeschichte verknüpft sein? Biddy war als junges Bardi-Mädchen von der Küste zur Ausbildung in einen Konvent im Norden gekommen. Später hatte man sie dann für die weißen Herren, die Perlenfischer, in Broome arbeiten lassen. Rosie hatte ihre Berichte davon auf Band aufgenommen und später abgetippt. Erst als Biddy für Kapitän Tyndall gearbeitet hatte, fühlte sie sich als Teil einer Familie. Und in einer Familie kümmert man sich umeinander. Daher verbrachte sie ihre alten Tage in der Obhut ihrer Leute, in dem Haus, in dem Kapitän Tyndall und Olivia gewohnt und das sie geliebt hatten.
Das Zimmer war nur schwach beleuchtet – der Mond und eine Lampe spendeten ein sanftes, weiches Licht. Hier lauerten keine traurigen Schatten. Biddy war verhutzelt, ihre tiefschwarze Haut schien vom Alter verwelkt zu sein, doch ihre Augen strahlten, und ihr Mund kräuselte sich zu einem fast zahnlosen Lächeln, als sie Lilys Stimme erkannte.
»Schön, dass du wach bist, Biddy, Liebes.«
»Is’ noch jede Menge Zeit zum Schlafen. Gehst bald weg?«
»Nein. Ich bleibe ein paar Wochen hier. Viel Zeit, dich zu besuchen, bevor ich nach Hause fahre.« Lily setzte sich in einen kleinen Korbsessel.
»Das hier dein Zuhause. Dein Land. Deine Leute. Du keine Stadtfrau. Lernst deine Geschichten?«
»Ich versuch’s, Biddy. Wenn ich mich eingelebt habe, setze ich mich zu den Frauen. Manchmal fällt es ihnen schwer, sich mit weißen Verwandten zu unterhalten.«
»Alte Frauen da kennen dich. Kennen die Geschichten. Musst deinen Stamm kennen lernen, Lil.« Sie ergriff Lilys Hand, ihr Griff war immer noch fest. »Wo sein dein Mädchen, hm?«
»Sami arbeitet oben im Norden in der Wüste. Sie kommt hierher, Biddy.«
»Sie muss wissen, wer sie is’. Sie kennt sich nicht. Kannst nicht glücklich sein, wenn du nicht weißt, wer du bist.« Biddy hatte Recht, fand Lily. Solange man nicht weiß, wer man ist und wohin man gehört, kann man nicht wirklich glücklich sein. Vielleicht war das der Grund für Samis Rastlosigkeit. Sie hatte Angst, sich zu lange an einem Ort niederzulassen, weil sie sich sonst mit ihren familiären Wurzeln auseinander setzen müsste.
»Du bring das Mädchen her. Musst deine Leute kennen. Alle.« Biddy schloss die Augen. Die knochige Gestalt unter der Bettdecke schwieg. Lily streichelte der alten Frau die Hand.
Nach einer Weile sprach Biddy noch einmal, jedoch ohne die Augen zu öffnen. »Ich kann die Musik hören. Zeit für Tanzen und Singen. Schön hier in Schatten vom alten Baum. Tut gut, den Boden berühren. Sie unsere Mutter. Ich hör dich singen, Mutter …« Ein leises Grunzen wurde zu einem klagenden Singsang – ein sanftes Auf und Ab wie die an- und abschwellende Flut um die Mangroven.
Rosie erschien in der Tür. »Sie ist jetzt woanders, Lil. Komm zurück auf die Veranda. Sie ist glücklich, es geht ihr gut.«
Das neue Pearl Luggers Museum, das den Besuchern einen Eindruck von Broomes Perlenfischerzeiten vermitteln sollte, befand sich dicht bei den Mangrovenwäldern, aber nur eine Häuserzeile abseits der Hauptstraße. Dort hielt sich Lily am nächsten Morgen hinter einer Gruppe Touristen auf, die sich alte Fotos von Loggern auf See und im Hafen sowie von den Perlenfischermannschaften neben enormen Muschelhaufen ansahen. Sie suchte die Fotos der Perlenbarone in ihren weißen Uniformen nach einem vertrauten Gesicht ab. Nach einem Blick in einen Schaukasten, in dem ein echter Taucheranzug mit Helm, eine frühe Schnorchelausrüstung und Sauerstoffflaschen ausgestellt waren, trat sie hinaus in den gleißenden Vormittag. Sie setzte Sonnenbrille und Strohhut auf, ehe sie zu den beiden wunderschön restaurierten Loggern hinübersah, die dauerhaft im Trockendock lagen.
»Lily! Willkommen.« Die fröhliche Stimme von ›Salty‹ Baillieu rief nach ihr. Der ehemalige Perlentaucher leitete jetzt das so genannte
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