Die Perlenzüchterin
ruhige Weisheit erkennen. Sie war die Art Frau, bei der die Menschen sich wohl fühlen. Kaum hatte jemand sie kennen gelernt, wollte er auch schon die Bürde seiner Lebensgeschichte mit ihr teilen.
»Und womit, Dale? Allein stelle ich mir den Ruhestand nicht besonders unterhaltsam vor.« Sie sagte ihm nicht – und außer Sami hatte sie es auch noch niemandem gesagt –, dass sie vorzeitig in den Ruhestand gegangen war und eine freie Frau mit nicht unbeträchtlichen Rücklagen war. Lily wollte vermeiden, dass Dale oder jemand anders sie unter Druck setzte.
»Du musst nicht allein sein«, erinnerte er sie milde.
Lily lächelte. »Ich danke dir, Dale. Aber ich bin auch nicht völlig allein. Ich habe ja eine Tochter und eine ganz besondere Großfamilie.«
»Eine ziemlich abenteuerlustige Tochter. Wo ist Samantha?«
»Irgendwo draußen in der Wüste, in traditionellem Stammesland. Schauplätzen alter Aborigine-Kunst auf der Spur, für ihre Forschung.«
»Allein?« Dale hob eine Augenbraue. Sein Interesse an Aborigines beschränkte sich auf das Sammeln guter indigener Kunst als Investition sowie die gelegentliche Teilnahme an Veranstaltungen in Broome, bei denen Aborigine-Kultur ausgestellt wurde.
»Sie ist ein sehr unabhängiger Mensch. Ich bin sicher, sie kommt hierher, wenn sie so weit ist. Sie hat ihren Hund und ein Satellitentelefon und meldet sich hin und wieder.«
Lilys vage Antwort verwirrte Dale etwas. Er wechselte lieber das Thema. »Also dann, zurück zum Hier und Jetzt. Essen wir zu Abend.«
»Danke für die Einladung, aber ich habe dir doch erzählt, dass ich Rosie und ihrer Familie versprochen hatte, sie zu einem Willkommensabendessen zu besuchen.« Sie beugte sich vor und gab ihm einen flüchtigen Kuss. »Erinnere dich, heute Abend nur ein Dämmerschoppen!«
»Na, dann noch einen Margaret River Verdelho, um die abendliche Kühle zu begrüßen«, erlaubte er sich grinsend.
»Dir gefällt nicht, was hier an neuem Gewerbe entsteht, stimmt’s?«, fragte Rosie, als sie sich am Ende von Lilys erstem Tag in Broome auf der Veranda des wunderschönen alten Hauses niederließen.
»Die Touristen kommen doch nicht wegen der Hamburger nach Broome; allenfalls wegen des Biers der Broome Brewery. Sie wollen hier die Schönheit, die Strände, die historischen Stätten genießen. Und die hiesige Küche müsste ihnen eigentlich gut schmecken«, erwiderte sie. »Die Perlenfischerei hat die Stadt groß gemacht, was für Außenstehende immer noch faszinierend ist.«
»Es geht das Gerücht, dass einige der alten Bungalows vielleicht wegmüssen. Sie entsprechen den heutigen Bauvorschriften nicht mehr«, fügte Rosie hinzu und beobachtete Lily genau.
»Was? Sind die Leute vom Denkmalschutz schon dahinter gekommen? Sogar das Tourismusamt weiß, dass diese Häuser genau das sind, was die Leute sehen wollen!«
Rosie ergriff die Gelegenheit beim Schopf. »Und warum hilfst du nicht, diese Häuser zu schützen? Bleib hier und kämpfe für die gute Sache. Du könntest eine Menge für die Stadt tun. Aber wenn du damit Erfolg haben willst, musst du eine von uns sein, hier leben.«
»Planst du etwa schon meine neue Karriere?«, fragte Lily gutmütig.
»Lily, du hast doch selbst gesagt, wenn du dich aus dem Labor zurückziehst, willst du nicht gleich ganz aus dem aktiven Leben aussteigen und nur noch den lieben langen Tag auf der Veranda sitzen. Broome könnte deine neue Herausforderung werden. Schließlich hast du ein begründetes Interesse an dieser Stadt.«
Lily schwieg. Harlan, Rosies Mann, kam, um ihre Gläser nachzufüllen.
»Mehr Wein? Kaffee? Lizzie ist endlich aus der Badewanne heraus. Ich übernehme die Gutenachtgeschichte. Und Lily: Biddy möchte dich sehen, ehe du gehst!«
Sie lächelte den gut aussehenden Anwalt an. Sie sah ihn vor sich, wie er seiner Tochter eine Geschichte erzählte – ein amüsanter Kontrast zu seinen leidenschaftlichen Auftritten vor Gericht. Lily hatte sich so gefreut, als Rosie Harlan bei ihrer Ausstellung in New York kennen gelernt hatte. Er beharrte darauf, ihre Begegnung sei arrangiert gewesen. Außerdem waren sie in jenem Moment die beiden einzigen Aborigines aus den Kimberleys im Raum, wahrscheinlich sogar in ganz New York. Es sei Schicksal, scherzte er, und die schicksalsgläubige Rosie stimmte ihm zu.
Jetzt hatten sie eine liebenswerte fünfjährige Tochter, Lizzie, die von Tante Lily nach besten Kräften verzogen wurde.
Sie erhob sich. »Ich dachte, Biddy schläft
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