Die Pfade des Schicksals
kurze Gras federte seine Schritte ab. Bald begann er rascher auszuschreiten, um die Felsklippe möglichst in der Abenddämmerung zu erreichen.
Eine halbe Meile vor der Horizontlinie, hinter der das Gelände abfiel, änderte Naybahn seinen Kurs leicht nach Süden.
Als Covenant näher herankam, sah er, dass der Steilabfall von Spalten durchzogen war. Manche sahen wie Erosionsrisse aus, die Kratzspuren von Wetter und unzähligen Jahrtausenden. Andere schienen tiefere Brüche und Verwerfungen im gewachsenen Fels der Klippe zu sein. Aber er roch noch immer kein Salz und hörte auch keine Brandung. Der scharfe Wind blies alle Anzeichen dafür weg, dass sie sich vielleicht dem Meer näherten.
Naybahn bog noch weiter nach Süden ab. Das veranlasste Covenant dazu, unwillkürlich schneller zu marschieren. In seiner feuchten Kleidung war er bereits ausgekühlt. Er konnte nur hoffen, dass Naybahn oder Branl ihn zu einer windgeschützten Stelle führen würden.
Das Ranyhyn warf den Kopf hoch und ließ ein Schnauben hören, das verächtlich klang. Aus eigenen Gründen, obwohl Branl ähnlich hätte reagieren können, stieß der Hengst Covenant leicht mit den Nüstern an. Hast du vergessen, wer ich bin? Bist du töricht genug, an uns zu zweifeln? Dieser sanfte Stoß dirigierte Covenant zu einem Riss oder einer Spalte ungefähr hundert Schritt landeinwärts.
Am Eingang der Spalte stellte er fest, dass sie für Pferde zu bewältigen und breit genug war, um einen aufgesessenen Reiter passieren zu lassen. Ihr zur Klippe hin abfallender Boden war nicht gefährlich steil.
Von dort aus sah Covenant das Meer der Sonnengeburt.
Unter einem bei herabsinkender Abenddämmerung bleiernen Himmel schien es falsch benannt zu sein. Vom Wind gepeitschte Wogen, die größer als Riesen und dunkel wie Gewitterwolken waren, rollten auf die Felsküste zu und verschwanden unter den Klippen. Fallwinde ließen die Wogenkämme zerstieben und rissen die Gischt nach allen Richtungen mit sich. Trotzdem rollten die Seen mit der massiven Unentrinnbarkeit von Lawinen oder kalbenden Gletschern heran. Trotz seiner Benommenheit glaubte Covenant ein schwaches Zittern zu spüren, wenn wieder ein Brecher an die Granitküste donnerte. Irgendwo weit außerhalb der Reichweite seiner Sinne wühlten Stürme, die zuvor nach Osten abgezogen waren, das Meer auf.
Naybahn betrat ohne Zögern die Spalte und trug Branl hinunter. Covenant folgte den beiden vorsichtig.
Auf dem Weg zu der Felsterrasse hinunter sah er mehr und mehr von der aufgewühlten See. Atavistische Schwindelgefühle begannen ihm zuzusetzen: Bis zu den Wogen war es sehr weit hinunter. Wer von dieser Terrasse fiel, würde Zeit haben, alle Missetaten seines Lebens zu bereuen, bevor er starb. Instinktiv blieb er mal links, mal rechts dicht an der Felswand, aber auch ihre uralte Dauerhaftigkeit konnte ihn nicht stabilisieren.
Tu es nicht, befahl er sich. Sieh nicht hin. Aber die Tiefe lockte ihn bereits; sie drängte ihn, zu stolpern, sich herumzuwerfen und zu fallen; sein leidvolles Dasein durch einen Sturz in die Tiefe zu beenden. Er befand sich in einer Spalte, und sein Verstand war ein Labyrinth aus Rissen. Von allen Seiten riefen ihn Erinnerungen. Bald würden sie zu einem Wirbel, einem Geas werden, und das Meer oder die Vergangenheit würde ihn verschlingen.
In einem anderen Leben wäre Lena ihm zu Hilfe gekommen. Schaumfolger oder Triock hätten ihm geholfen. Oder Lindens Gegenwart hätte ihm die Willenskraft verliehen, seiner Zwangsvorstellung zu widerstehen. Aber in diesem Leben …
Branl umklammerte seinen Arm mit eisernem Griff. Hinter dem Meister wartete Naybahn am Abgrund, ohne einen Sturz zu befürchten. Aber Branl war wegen Covenant zurückgekommen.
Die Haruchai vergaßen nie etwas. Sie besaßen eine Stärke, eine unschätzbare Gabe, die Covenant fehlte: Sie waren in sich selbst nicht allein. Jetzt bemühte Branl sich, Covenants Impuls zu Isolation und Schwindel wettzumachen.
Im sicheren Griff des Gedemütigten bewegte Covenant sich auf Nahbahn zu, ohne vom rechten Weg abzukommen.
An der Kante stand das Ranyhyn zwischen ihm und dem Abgrund. Branl hielt ihn weiter am Arm fest. So beschützt bewegte Covenant sich vorsichtig nach Süden weiter.
Jetzt konnte er die Brandung hören. Das Heulen der Winde, die über Granitkanten pfiffen, komplizierte das Tosen der heranrollenden Brecher, betonte ihren zeitlosen Hunger. Einige Augenblicke lang schien die Brandung eine Stimme zu besitzen, die von
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