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Die Pforte

Die Pforte

Titel: Die Pforte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Lee
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    Helles Sonnenlicht strömte an den Jalousien vorbei ins Zimmer, als bei Travis Chase am ersten Jahrestag seiner Entlassung aus dem Gefängnis um vier Uhr morgens der Wecker klingelte. Er verstaute seinen Rucksack in seinem Ford Explorer, verließ Fairbanks auf der State Route 2 und befand sich eine Stunde später auf dem dicht verbackenen Schotter des Dalton Highway, der in Richtung Norden zum Polarkreis und zu dem noch nördlich davon gelegenen Gebirge, der Brooks Range, führte. Von den Kuppen der höchsten Erhebungen aus konnte er sehen, wie sich die Straße und die Pipeline vor ihm meilenweit dahinschlängelten, über die Kämme kleinerer Hügel und durch Täler voll rosaviolett leuchtender Weidenröschen.
    Er unternahm diese Tour nicht, um den Jahrestag seiner Haftentlassung zu feiern. Ganz und gar nicht. Vielmehr wollte er sich über eine Reihe wichtiger Fragen klarwerden. Wo stand er? Und wie sollte es künftig mit ihm weitergehen?
    Der Armaturenanzeige nach betrug die Außentemperatur fünfzehn Grad Celsius. Travis kurbelte die Fenster herunter und ließ die klamme Luft ins Wageninnere strömen. Der Hochsommer in diesen Breiten roch ähnlich wie der Frühling daheim in Minneapolis, nach feuchtem Gras, das noch nicht lange frei von Schnee war.
    Er kam um zehn Uhr in Coldfoot an und legte eine Rast ein, um zu Mittag zu essen. Der kleine Ort, bestehend aus einer Handvoll Häusern und mit weniger alszwanzig Einwohnern, lebte einzig und allein vom Durchgangsverkehr auf dem Dalton Highway. Hauptsächlich Fernfahrer, unterwegs zu den Ölfeldern in der 250   Meilen weiter nördlich gelegenen Prudhoe Bay. Coldfoot bildete die letzte menschliche Ansiedlung am Highway, bevor die hochaufragende Gebirgskette die Landschaft zerteilte und dahinter der lange, abschüssige Weg zum Meer begann.
    So weit würde Travis nicht fahren. Die Berge, die sein Ziel bildeten, befanden sich genau hier. Westlich des Ortes folgte der Nationalpark Gates of the Arctic der Gebirgskette in einem Bogen von zweihundert Meilen nach Südwesten. In den Park führten keine Straßen, nicht einmal Wanderwege. Als Trekkingtourist in der Brooks Range musste man sich aufs Querfeldeinwandern einstellen, aber immerhin gab es Webseiten und Wanderführer, denen sich die sichersten und meistfrequentierten Trekkingrouten entnehmen ließen. Travis hatte sie alle eingehend studiert und dann seine eigene Route geplant, fernab der empfohlenen Wege.
    Er stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz des
Brooks Lodge and Fuel Depot
ab, so der Name des Rasthofs, befüllte seine Wasserschläuche und machte sich vor elf Uhr auf den Weg. Als er abends rastete, um etwas zu essen – er erhitzte sich einen Beutel gefriergetrockneten Naturreis auf seinem Propangaskocher   –, war er auf dem Gipfel des ersten Gebirgskamms angelangt, gut siebenhundert Meter oberhalb von Coldfoot. Gen Süden erstreckten sich die siebzig Meilen, die er am Morgen zurückgelegt hatte, in Richtung Unendlichkeit – zurück in die Welt und zu den Orten, zwischen denen er sich zu entscheiden hatte.
    Alaska oder Minnesota?
    Natürlich wurde Druck auf ihn ausgeübt, wieder nach Hause zurückzukehren. Von allen, die er dort kannte. Er war gerade einen Monat aus der Haft entlassen, als er sich sein Flugticket nach Fairbanks gekauft hatte – ohne Rückflug; manche seiner Verwandten hatten nicht einmal Gelegenheit gehabt, ihn wiederzusehen. Welche Zukunft sah er für sich hoch oben im Norden, zweitausend Meilen von seiner Familie entfernt?
    Welche Zukunft gab es für ihn in ihrer Umgebung? Selbst für jene, die Verständnis für seine Tat aufbringen und ihm verzeihen konnten, würde er immer der Bruder bleiben, der die Hälfte seiner zwanziger und die gesamten dreißiger Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Noch in zwanzig Jahren würde er in den Augen der nächsten Generation immer dieser Typ bleiben, der mal im Knast gesessen hatte. Dieser Onkel. Die Freiheit hatte ihre engen Grenzen. So sah es aus.
    Nach dem Essen brach er zum nächsten Gebirgskamm auf, um dort sein Nachtlager aufzuschlagen. Wobei von Nacht um diese Jahreszeit hier kaum die Rede sein konnte: ein paar Stunden kühlendes Zwielicht, in denen die Sonne durch den Dunst zum nördlichen Horizont hinabsank, ohne ihn je zu erreichen. Er schlug sein Zelt auf der weichen Erde neben einer Schneefläche auf, die sich meilenweit über die oberen Regionen des Berges hinzog, und setzte sich dann noch ein Stündchen davor, um auf die nötige Bettschwere

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