Die Philosophin
Erinnerungen und Gefühle regten sich in seinem Innern, stritten miteinander und tobten, als wäre seine Seele ein Schlachtfeld, auf dem die Dämonen seines Lebens einander wie entfesselt bekriegten. Keinen Augenblick länger hielt er es indiesem Raum aus! So wie er war, unrasiert, ohne Mantel und Perücke und Dreispitz, stolperte er hinaus, die Treppe hinunter, ins Freie, um den Dämonen zu entfliehen.
Auf der Place de Grève war noch die Hölle los. Das Feuerwerk war zwar vorbei, doch immer noch wurden Würste und Brote von den Gerüsten geworfen, die rund um den von Fackeln erleuchteten Platz aufgeschlagen waren. Blind vor Begierde waren die Menschen darauf versessen, in dem flackernden Lichtschein noch irgendetwas zu erhaschen, wovon sie sich ein kleines bisschen Glück erhofften, wenigstens für diese eine Nacht. Unter den Röhren, aus denen die letzten Reste des Weins rannen, hagelte es Faustschläge, und es ergoss sich mehr Flüssigkeit auf das Pflaster als in die Krüge, die überall in die Höhe gereckt wurden. Plötzlich wurden aus einem Fenster Geldstücke geworfen. In wütender Raserei, die Gesichter blutig und von Dreck verschmiert, stürzte sich das Volk auf die Münzen, Frauen und Männer warfen sich gegenseitig zu Boden, bereit, einander Arme und Beine zu brechen, um einen Sou zu ergattern.
Angewidert wandte Diderot sich ab. Im Laufschritt eilte er davon, in Richtung Seine, die er wenige Minuten später überquerte, willenlos einem dunklen Drang folgend, dessen Ziel er nicht wusste, obwohl er es in sich trug. Im blakenden Licht der Straßenleuchten erkannte er die letzten umherstreifenden Dirnen, die sich nur noch an den Eingängen ihrer Wohnhäuser zu zeigen wagten, aus Angst vor dem Zugriff der Nachtbrigaden, die mit ihren Stocklaternen ab Mitternacht Jagd auf sie machten. Sicher vor der Garde waren die Mädchen nur im Palais Royal. Das sündige Paradies, das bis zwei Uhr in der Nacht seine Tore offen hielt, um die Sehnsucht einsamer Männer zu stillen, war Eigentum des Herzogs vonOrléans, zu dem die Polizei so wenig Zutritt hatte wie die Soldaten der Garde. Diderot ließ seine Blicke schweifen. Unter den Arkaden gab es so viele schöne Frauen zu sehen, dass selbst ein zum Tode Verurteilter hier Stunden hätte verbringen können, ohne sich nach der Freiheit zu sehnen. Doch in dieser Nacht versagte der Zauber. Diderot empfand nicht die geringste Lust, eines der geheimnisvollen Wesen, die ihm aus der Dunkelheit zulächelten, anzusprechen, und die Wächter hatten längst noch nicht ihre Schlüssel gezückt, um die Torgitter zu schließen, als ihn die innere Rastlosigkeit trieb, seinen Weg fortzusetzen.
Ihm knurrte der Magen. Wo fand er jetzt noch etwas zu essen? Die Markthallen waren der einzige Ort in Paris, der niemals zur Ruhe kam. In dem tausendfachen Stimmengewirr gab es weder Pause noch Schlaf, und in den Schenken zwischen den Ständen floß der Branntwein in Strömen. Diderot bestellte ein Glas und dazu eine Portion kaltes Rindfleisch mit Petersilie. Der Schnaps war mit Wasser gestreckt, aber scharf mit Nelkenpfeffer gewürzt, das Rindfleisch schmeckte nach Hammel. Während er trank und aß und darauf wartete, dass er endlich müde wurde, schaute er zu, wie die beladenen Karren aus den Dörfern und Vororten eintrafen, um ihre Fracht in einem scheinbar unendlichen Strom abzuliefern. Auf die Gemüsebauer folgten die Fischhändler, auf die Fischhändler die Geflügel- und Eierhändler und auf diese schließlich die Einzelhändler der Stadt, denn alle Pariser Märkte bezogen ihre Waren von hier.
Als die Laternen blasser wurden, zahlte Diderot und stand auf. Draußen brach ein neuer Tag an, eine frische Brise wehte vom Fluss herüber, und vor den Blumen- und Obsthallen staute sich eine so üppige Fülle und Pracht, als habe derSommer selbst sein Füllhorn hier ausgeschüttet. Zu Bergen türmten sich die Früchte auf den Auslagen, es duftete nach Rosen und Levkojen, nach Kräutern und Gewürzen.
Doch die Dämonen ließen Diderot keine Ruhe. Welchen Ort gab es noch, um sie zu bannen?
25
Eine Stunde später fand Diderot sich im Café »Procope« wieder. Seit Jahren hatte er das Lokal nicht mehr betreten. An diesem frühen Morgen saß kaum ein Dutzend Gäste an den schweren Eichentischen unter den schwarzen, verräucherten Deckenbalken. Die meisten steckten hinter einer Zeitung oder tranken schweigend einen Kaffee, um ihre Lebensgeister zu wecken.
Mit vor Erschöpfung brennenden Augen
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