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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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durch einen Gegner der Zensur ausgeübt.«
    »Warum sagen Sie mir das?«, fragte Diderot. »Ich kann nicht erkennen, was mich diese Überlegungen noch angehen. Ich werde die Herausgeberschaft der Enzyklopädie niederlegen. Auch ist dies alles kaum eine Antwort auf meine Frage.«
    »Begreifen Sie denn nicht? Sophie hat Ihr Werk nicht zerstört, sondern gerettet! Ohne ihr Eingreifen wäre die Enzyklopädie für immer verboten worden. Man hätte sie auf den Index gesetzt und verbrannt. Das hat Sophie verhindert. Dafür hat sie ihre Liebe geopfert – den höchsten Preis, den ein Mensch zahlen kann!«
    »Ich habe sie nicht darum gebeten«, erwiderte Diderot. »In dem Zustand, in dem die Enzyklopädie jetzt ist, kann ich sie nur noch verachten! Es wäre besser gewesen, sie wäre überhaupt nicht erschienen. Und Sie reden von Liebe!«
    »Ja, Monsieur, weil die Wahrheit der Liebe bedarf – so wie die Liebe der Wahrheit! Beides gehört zusammen. Oder wollen Sie das Kind mit dem Bade ausschütten?«
    »Welches Kind? Welches Bad?«
    »Das kann ich Ihnen erklären.« Malesherbes holte tief Luft, bevor er weitersprach. »Angenommen, Pythagoras hätte noch mehr Lehrsätze formuliert als denjenigen, den wir heute kennen – verlöre dieser darum seine Gültigkeit, nur weil die anderen nicht mehr erhalten sind? Oder weiter angenommen, es hätte ein fünftes Evangelium gegeben, das vor vielen Jahrhunderten vernichtet wurde – sollten wir darum heute die ganze Bibel verbrennen? Und angenommen schließlich, der Erfinderdes Rades hätte zugleich einen Weg ersonnen, um es ohne den Einsatz von Muskelkraft anzutreiben – müssten wir darum das Rad zerstören, nur weil wir heute nicht mehr im Besitz der vollständigen Erfindung sind?« Malesherbes schüttelte den Kopf. »Nein, Monsieur Diderot. Sie dürfen nicht aufgeben! Danken Sie Sophie, dass Sie Ihr Werk vor der völligen Zerstörung bewahrt hat, und führen Sie es, so gut es eben geht, fort. Auch wenn wir nach Vollkommenheit streben, das Leben ist nichts weiter als der Versuch, uns ihr durch eine Reihe größerer oder kleinerer Unvollkommenheiten anzunähern. Es gibt noch viel zu tun, die Tafelbände warten auf Sie!«
    »Sie können reden, was Sie wollen, Monsieur de Malesherbes«, sagte Diderot, »aber mein Entschluss steht fest. Ich will nichts mehr mit dieser scheußlichen Angelegenheit zu tun haben.«
    »Sie haben so Großartiges geleistet«, beharrte sein Besucher, mehr als jeder andere Philosoph unserer Zeit – mehr als Voltaire und Rousseau. Sie haben eine Bestandsaufnahme des Denkens gemacht, eine Inventarliste des menschlichen Geistes. Sie haben den Baum der Erkenntnis auf das Menschenmögliche gestutzt, Sie haben die Metaphysik vom Sockel gestoßen und die Philosophie an ihre Stelle gesetzt, und Sie haben als Erster erkannt, dass die Naturwissenschaft und die mechanischen Künste die Mathematik und Logik ablösen werden. Mehr noch: Sie haben nicht nur das Wissen darüber gesammelt, wie man die Welt verbessern kann, sondern mit der Enzyklopädie auch ein Programm zur praktischen Verwirklichung entworfen. Sie haben ein neues Zeitalter eröffnet, Monsieur! Wollen Sie jetzt auf halbem Weg Halt oder gar kehrtmachen?«
    Diderot schloss die Augen. Er war müde, erschöpft, leer.»Nein«, sagte er dann, die Augen wieder auf seinen Besucher gerichtet. »Ich jage nicht nach dem Ruhm, ein Unternehmen fortzuführen, das für mich nur noch Qual bedeutet. Ich habe zu viel gelitten – und leide immer noch –, um mich weiterer Folter auszusetzen. Und was diese Frau betrifft, von der Sie nicht müde werden zu reden«, fuhr er fort, als Malesherbes etwas einwenden wollte, »alle meine Sinne sträuben sich bei dem Gedanken, sie je wieder zu sehen.«
    »Diese Frau liebt Sie! Mehr, als Sie sich überhaupt vorstellen können! Sie hat ihr Leben für Ihr Werk hingegeben.«
    »Sie hat mein Werk vernichtet«, widersprach Diderot, »für jetzt und alle Zeit.« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Ebenso gut hätte sie meinen Sohn umbringen können.«
    Malesherbes schaute ihn an, die grauen Augen voller Entsetzen. Diderot erwiderte den Blick, fest und unbeirrt.
    So standen sie eine lange Weile einander gegenüber. Dann wandte Malesherbes sich ab und ging.

24
     
     
    Kaum war Malesherbes zur Tür hinaus, begann Diderot am ganzen Leib zu zittern. Bis zur letzten Sekunde des Besuchs hatte er um seine Beherrschung gekämpft, doch jetzt verließ ihn die Kraft. Die widersprüchlichsten Gedanken,

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