Die Philosophin
starrte Diderot auf den Tisch. Ein verblasstes Datum, das jemand mit dem Messer in das dunkle Holz eingeritzt hatte, sprang ihm entgegen:
18. Oktober 1747
. Tatsächlich, er saß an demselben Platz, an dem er Le Bréton für seinen großen Plan gewonnen hatte. Der Verleger selbst hatte das Datum eingeritzt, nachdem sie per Handschlag einig geworden waren. Le Bréton hatte Champagner bestellt, weil er sofort das Geschäft seines Lebens witterte. Im Gegensatz zu d’Alembert, der nur die Gefahren gesehen hatte – ängstlich wie ein Mädchen hatte er sie mit seinen braunen Augen angeblickt. Bei dem Gedanken an den schmächtigen, unscheinbaren Mann spürte Diderot Reue. Sie hatten sich Jahre nicht mehr gesehen. Es hieß,d’Alembert sei krank und lebe unter der Kuratel einer alten Jungfer namens Julie de L’Espinasse, die ihn mit mütterlicher Fürsorge und Zuckerwasser in ihrer Wohnung gefangen hielt. Ein so großer Geist, und ein so schwacher Charakter … Ob er ihn besuchen sollte? Immerhin, d’Alembert war in die Académie aufgenommen worden, während ihm selbst diese Anerkennung bis heute versagt geblieben war.
»Sie wünschen?«
Diderot schaute auf. Eine blutjunge Kellnerin, noch keine zwanzig Jahre alt, stand vor ihm und wartete auf seine Bestellung. Wie eine Erscheinung starrte er sie an. Genau so hatte damals Sophie vor ihm gestanden! Die Erinnerung, gegen die er sich seit so vielen Stunden zur Wehr gesetzt hatte, die er mit aller Macht versucht hatte zu unterdrücken, die ganze Nacht hindurch, während er rastlos durch die Stadt gezogen war – hier holte sie ihn ein. Wo war Sophie jetzt? Noch in Paris oder schon auf der Reise? Er hatte sie einmal gesehen, wie sie aus ihrem Haus auf die Straße getreten war, am Ortsrand von Saint-Cloud unweit der Stelle, wo die Netze zwischen den Ufern der Seine gespannt waren, um das Treibgut aufzufangen. Er hatte einen Polizeispitzel bestochen, um ihre Adresse ausfindig zu machen, in der Hoffnung, seinen Sohn dort zu sehen. Doch ihr Anblick hatte ihn so sehr geschmerzt, dass er den Versuch nie wiederholt hatte.
»
Pardon
, Monsieur, Ihre Bestellung?«, fragte die Kellnerin noch einmal.
»Bring irgendwas«, erwiderte Diderot. »Ganz gleich, was du willst.«
»Irgendwas? Tut mir Leid, aber das haben wir nicht.«
»Na gut, dann eine Tasse Schokolade.«
»Gern, Monsieur.« Das Mädchen strahlte, und es strahltenoch immer, als es wenige Minuten später mit dem dampfenden Getränk an seinen Tisch zurückkehrte. Während Diderot die Tasse an die Lippen führte, sagte die Bedienung: »Wenn alle Gäste wüssten, wie gut Schokolade tut, würden sie nie etwas anderes bestellen. Eine Portion kostet nur sechs Sous – die angenehmste und billigste Möglichkeit, um sich bis zum Abend bei Kräften zu halten.«
Diderot setzte die Tasse ab und blickte sie voller Verwunderung an. Ihre Worte kamen ihm seltsam vertraut vor, als habe er sie schon einmal gehört … Gehört? Nein! Er hatte sie selbst gesagt, jetzt fiel es ihm wieder ein, gesagt und geschrieben: ein paar unscheinbare Worte unter Millionen und Abermillionen von Worten, die er in seinem Leben irgendwann einmal gesagt oder geschrieben hatte.
»Allerdings«, erwiderte er irritiert. »Schokolade ist das beste Getränk überhaupt. Aber sag mal, woher weißt du das?«
»Das weiß doch jeder vernünftige Mensch«, antwortete sie mit einem Lachen. »Schokolade schmeckt nicht nur gut, sondern macht auch einen ganzen Tag lang satt, wenn sie richtig zubereitet wird. Wie das geht, steht in einem großen, gelehrten Buch. Der Patron hat uns Kellnerinnen die Stelle vorgelesen, damit wir es uns merken. Und er hat Recht, es ist wirklich nützlich, das zu wissen. Wenn ein Gast mich fragt, was er trinken soll, habe ich immer eine Antwort bereit. Aber was ist?«, fragte sie, als er plötzlich aufstand und sechs Sou auf den Tisch legte, um das Lokal zu verlassen. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«
26
Ein Fuhrwerk, mit vier kräftigen belgischen Pferden bespannt, wartete vor dem kleinen Haus am Ortsrand von Saint-Cloud. Zwei bleiche, untersetzte Lastträger, mit Hälsen so kurz und dick, als würden ihnen die Köpfe direkt aus den Schultern wachsen, nahmen seit dem frühen Morgen den Hausrat an ihre Haken: Betten, Stühle, Schränke, Tische, Spiegel, Kommoden und Kisten, in denen das Geschirr, die Bücher und die Küchengeräte verstaut waren. Nur auf einen Stock gestützt, schulterten sie Gewichte, unter denen ein Ochse
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