Lehmann, Sebastian
1
Quit PLAYING GAMES with my Heart
Ich kann nicht glauben, dass sie hier wirklich dieses Lied spielen. Aber die Leute auf der Tanzfläche rasten aus, werfen ihre Hände in die Luft und singen lauthals mit:
»Quit playing games with my heart.«
Ich schaue mich um. Wahrscheinlich waren die alle noch nicht mal in der Schule, als dieses Lied rauskam, ich scheine der Einzige zu sein, der es aus den neunziger Jahren kennt und hasst. Wie alt war ich damals? Sechzehn vielleicht?
»Quit playing Games with my Heart.«
Erinnerungen an meine Schulzeit blitzen auf, Englischstunde bei Mrs. Franzen. Bravo -Starschnitte mit den grinsenden Gesichtern der Backstreet Boys gingen durch die Reihen, und wir Jungs bemalten sie mit Hitlerbärtchen, schließlich verachteten wir Boybands von ganzem Herzen. Aber im Grunde waren wir nur neidisch, weil unsere Angebeteten aus der letzten Reihe Nick Carter viel süßer fanden als uns und lieber mit den Achtzehnjährigen aus der Oberstufe gingen. Hört auf, Spielchen mit meinem Herz zu spielen. Eigentlich war das damals ein Song über mich.
Und jetzt muss ich mir das wieder anhören. Solche Musik hätte ich vielleicht bei Ü30-Partys erwartet, aber nichtin einem illegalen Kellerclub in Neukölln. Inzwischen sind also die neunziger Jahre wieder angesagt. Stecken wir nicht noch mitten im Achtziger-Jahre-Revival? Langsam verliere ich den Anschluss.
»Quit playing Games with my Heart.«
Wie lange dauert dieses Lied denn? Und besteht es nur aus dem Refrain?
Ich gehe zur Bar, die aus einem dilettantisch zusammengezimmerten Holztresen besteht, und bestelle ein Bier.
»Sold out.« Der dürre Barkeeper, der eine lila Federboa trägt, blinzelt mich gelangweilt an. »There’s only Club-Mate-Wodka left«, sagt er in einem hessisch eingefärbten Englisch. Er deutet auf den heruntergekommenen Kühlschrank hinter sich, gefüllt mit unzähligen Flaschen des aufputschenden Teegetränks.
»Okay, then I’ll take one«, sage ich, und der Barkeeper stellt eine große Mate-Flasche vor mich auf den Tresen, ich muss etwas abtrinken, er füllt mit Wodka auf, schüttelt die Flasche kurz und händigt sie mir aus. Sofort nehme ich einen großen Schluck. Ich wünschte, ich wäre jetzt so richtig betrunken, aber wahrscheinlich kann man sich diese Musik nicht einmal schön trinken. Ich dachte, in Neuköllner Clubs spielen sie nur komplizierten Elektro oder deepen Tech-House. Aber nein. Außer man würde »It’s My Life« von Dr. Alban als Elektro bezeichnen.
Die Tanzenden sehen auch nicht gerade so aus, als würden sie zu Hause solch schreckliche Chart-Mucke aus dem vorletzten Jahrzehnt hören. Sie tragen ausgelatschte Bauernstiefel, hautenge Röhrenjeans und ausgeleierte Oversize-T-Shirts mit Brustausschnitten, die beinahe bis zum Bauchnabel reichen, außerdem kleine Wollmützen und riesenhafteRundschals, obwohl es hier im Keller bestimmt dreißig Grad sind. Ihr wichtigstes Utensil hängt ihnen lässig über der Schulter: ein Stoffbeutel, bedruckt mit grotesk-lustigen Sprüchen, wie zum Beispiel »Du hast keine Angst vorm Hermannplatz« oder »Deine Kinder sind hässlich und dumm. Ich hasse dich, geh doch zurück nach Prenzlberg und trink Bionade, bis du kotzen musst«. Frauen und Männer unterscheiden sich kein bisschen. In Neukölln wurde das dritte Geschlecht erfunden: das Hipster.
»Du tanzt ja gar nicht«, sagt jemand hinter mir, aber in diesem Moment beginnt gerade der schreckliche Neunziger-Trash-Hit »Coco Jamboo« von Mr. President.
»Die Musik«, stammle ich, drehe mich um und schaue einer mir völlig unbekannten, aber ziemlich gutaussehenden Frau in die pastellblauen Augen. Sie trägt ausgelatschte Bauernstiefel, hautenge Röhrenjeans und ein riesiges Oversize-T-Shirt. Auf ihrem Stoffbeutel steht: »Shut up and sleep with me.« Das irritiert mich kurz, aber ich nehme es als gutes Omen.
»Was ist mit der Musik?«, fragt sie und fährt sich mit der Hand durch ihren hellblond gefärbten Undercut.
»Scheißmusik«, präzisiere ich. Ich sollte langsam anfangen, richtige Sätze zu bilden. Schon wieder muss ich an meine Englischlehrerin Mrs. Franzen denken, wie sie mich immer ermahnte: »Please answer in a whole sentence.«
»Als das Lied rauskam, war ich gerade sechs.« Sie lächelt mich an.
Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück. Vielleicht sollte ich mir erst mal ihren Ausweis zeigen lassen, bevor das hier weitergeht.
»Dann bist du noch ziemlich jung?«, rufe ich ihr ins Ohr.
Jetzt lächelt
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