Die Pilgerin
Das wäre auch besser fürs Geschäft, denn sein Vater war nur noch ein dahinfaulender Kadaver, dem das Fieber krause Gedanken eingab. Als Erstes würde er dafür sorgen, dass weder Laux noch ein anderer Ratsherr außer seinem Freund Gürtler das Krankenzimmer betrat, und er musste auch verhindern, dass sein Vater Gelegenheit fand, sein Testament zu ändern. Dies erklärte er Gürtler wortreich und nahm dessen lobende Zustimmung begierig auf.
V.
Otfried gab Veit Gürtler das Geleit bis zum Hoftor und kehrte dann in Gedanken versunken ins Haus zurück. Tilla hörte ihn kommen und eilte die Treppe herab. Ihre Augen leuchteten und ihr Gesicht drückte Hoffnung aus. »Vater scheint es besser zu gehen. Meine Gebete haben also doch gefruchtet!«
Ihr Bruder unterdrückte einen Fluch. Das war genau die Nachricht, die er nicht hatte hören wollen. Mit Mühe rang er sich ein »Das ist aber schön!« ab und fragte sie, was es zum Abendessen gäbe.
Für so gefühlskalt hätte Tilla ihren Bruder nun doch nicht gehalten. »Freust du dich nicht darüber? Du hörst dich an, als sei Vater dir auf einmal gleichgültig!«
»Natürlich nicht!«, fuhr Otfried auf. »Aber ich habe viele andere Dinge zu bedenken! Ich muss unser Handelshaus leiten, und darauf hat Vater mich wahrlich nicht vorbereitet! Deswegen sehe ich mich gezwungen, andere Leute um Rat zu fragen. Glaubst du, das gefällt mir?«
»Du meinst Gürtler? Gib nur Acht, dass er dich nicht übervorteilt. Ich mag den Mann nicht, denn er hat etwas Heimtückisches an sich.«
Im düsteren Flur konnte sie das spöttische Lächeln nicht sehen, welches um Otfrieds Lippen spielte. War er erst einmal der Regierer der Familie, hatte seine Schwester genau das zu tun, was er ihr befahl, und den Ehevertrag mit Veit Gürtler würde er noch an jenem Tag schließen, an dem sein Vater unter die Erde gebracht worden war. Obwohl er nicht vorhatte, etwas auf Tillas Meinung zu geben, verteidigte er seinen Standpunkt. »Ich weiß nicht, was du gegen Gürtler hast. Er ist ein angenehmer Mensch und – wie ich ehrlich zugeben muss – der einzige Kaufherr, der mir derzeit beisteht. Von Laux oder dessen Sohn kann ich das nicht behaupten.«
»Hast du sie denn um Hilfe gebeten?« Tilla bemerkte sein leichtes Zusammenzucken und wusste, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Aber sie konnte der Sache jetzt nicht nachgehen, denn sie durfte ihn nicht hier unten festhalten. »Vater will dich sprechen. Du sollst sofort zu ihm hinaufkommen!«
»Ich bin schon unterwegs!« Otfried wandte seiner Schwester den Rücken zu und stieg nach oben. Zu seiner Erleichterung folgte sie ihm nicht, sondern eilte in Richtung Küche. Während er sich der Kammer seines Vaters näherte, fragte er sich, mitwelchen Vorwürfen und aberwitzigen Ideen er sich jetzt wieder überhäufen lassen musste. Als er das Zimmer betrat, erschrak er, denn seinem Vater schien es erheblich besser zu gehen.
Eckhardt Willinger saß mit mehreren Kissen im Rücken halb aufgerichtet in seinem Bett und blickte seinen Sohn das erste Mal seit langem mit klaren Augen an. »Hast du den Ratsschreiber benachrichtigt, dass ich mein Testament ändern will?«
Otfried hatte damit gerechnet, dass sein Vater so schwach und verwirrt sei wie in den Wochen zuvor. Doch offensichtlich war das Fieber gewichen und der Alte hatte nichts von dem vergessen, was in den letzten zwei Tagen im Krankenzimmer besprochen worden war. Unwillkürlich zog der junge Willinger den Kopf ein und wagte es nicht, den Kranken anzusehen. »Nein, Vater! Du warst die Nacht über schlecht dran und hast den halben Tag vor Schwäche geschlafen. Aber wenn du meinst, dass du dich nun kräftig genug fühlst, mache ich mich auf den Weg.«
»Weshalb sträubst du dich so? Liegt dir so viel an den paar Gulden, die ich für mein Seelenheil opfern will?« Das Gesicht des alten Willinger färbte sich dunkel vor Zorn.
Otfried presste die Zähne zusammen, um sich kein böses Wort entschlüpfen zu lassen. Wenn es sich nur um ein paar Gulden gehandelt hätte, würde er den Verlust leicht verschmerzen können, doch die Pläne seines Vaters ließen sich nicht mit einer Hand voll Münzen verwirklichen. Dazu kam Tillas Mitgift, die er nicht aus den Augen lassen durfte. Ihr war bereits jetzt mehr zugeschrieben worden, als andere Mädchen aus wohlhabenden Häusern erhielten, und es war in seinen Augen überflüssig, diese Summe noch zu verdoppeln.
Der alte Willinger las seinem Sohn die Gedanken von der
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