Die Pilgerin
Stirnab und krauste verächtlich die Nase. Otfried war schon als Kind gierig und neidisch gewesen, und daran hatte sich im Lauf der Jahre nichts geändert. Oft hatte er als kleiner Junge seiner Schwester ein Stück Kuchen oder eine andere Leckerei weggenommen, obwohl er bereits mehr erhalten hatte als sie. Damals hatte Willinger über ihn gelacht und sich gesagt, sein Sohn würde einmal ein guter Kaufherr werden, der seinen Vorteil zu wahren vermochte. Um sein Vermögen zu erhalten und zu mehren, musste man hart und zugreifend sein. In der Abenddämmerung seines Lebens angekommen begriff der Kaufherr jedoch, dass er falschen Idealen gefolgt war und diese seinem Sohn als Leitstern mitgegeben hatte. Otfrieds Charakter vermochte er nicht mehr zu ändern, doch er konnte noch viel für sein eigenes Seelenheil und damit auch für das seines Sohnes tun.
»Besorge Papier und Feder und schreibe auf, was ich dir diktiere. Danach holst du den Ratsschreiber, meinen Freund Laux und den Kaufherrn Schrimpp, damit sie mein Testament als Zeugen unterschreiben.« Willingers Stimme klang beinahe so fest und bestimmend wie in seinen besten Zeiten, und Otfried war es gewohnt, seinen Befehlen zu gehorchen. Daher verließ er die Kammer und kehrte so rasch mit dem Verlangten zurück, als fürchte er noch immer die Haselrute.
Sein Vater wies auf das kleine Schreibpult, das er sich in die Ecke hatte stellen lassen, um nachts sein Schlafzimmer nicht verlassen zu müssen, wenn er etwas notieren wollte. »Stell dich hin und fang an!« Dann diktierte er seinem Sohn sein neues Testament.
Mit knirschenden Zähnen schrieb Otfried die Summe auf, die sein Vater der Kirchengemeinde spenden wollte. Als dann noch der Absatz kam, der ihn dazu verdammte, die weite Pilgerfahrt nach Santiago zu unternehmen, um das Herz seines Vatersdorthin zu bringen, falls es diesem nicht gelingen sollte, noch zu Lebzeiten die heilige Stätte zu erreichen, hätte er dem Alten am liebsten Feder und Tintenfass an den Kopf geworfen. Statt offen aufzubegehren schrieb er jedoch alles fein säuberlich nieder, auch die Summe, die seine Schwester erhalten sollte, die Deputate für das Gesinde und einige Geschenke für Freunde und Geschäftspartner. Kaum war er damit fertig, streckte sein Vater den Arm aus und forderte ihm das beschriebene Papier ab.
»So, nun kannst du den Notar und die Zeugen holen. Ich lese inzwischen alles durch, und wenn es noch etwas zu ändern gibt, wirst du es nachtragen, sobald du wieder hier bist. Ach ja, schick Tilla zu mir, bevor du gehst. Ich glaube, ich habe Hunger. Sie soll mir eine Hühnerbrühe bringen und etwas Rotwein.«
»Ja, Vater!« Otfried verneigte sich kurz und verließ das Zimmer in einem Zustand, in dem er nicht mehr wusste, ob er Männlein oder Weiblein war.
Er traf seine Schwester am Fuß der Treppe. Sie hatte ein Schultertuch übergeworfen und hielt einen geschlossenen Korb in der Rechten. »Wo willst du denn noch hin?«
»Zu unserer alten Kinderfrau! Es ist doch Samstag und da bringe ich ihr jedes Mal eine Kleinigkeit, damit sie am Tag des Herrn etwas Besseres zu essen bekommt als unter der Woche. Ich weiß, ich bin schon spät dran, aber ich bin durch die Gebete in der Kirche und vor allem durch Gürtler aufgehalten worden.« Tilla nickte ihrem Bruder flüchtig zu und ging so rasch zur Tür, als wolle sie vor ihm davonlaufen.
Otfried hatte ihr sagen wollen, dass der Vater nach ihr verlangt hatte, aber dann dachte er sich, dass es von Vorteil war, wenn sie ihm in den nächsten Stunden nicht in den Weg geraten konnte. Daher blickte er ihr nur stumm nach, bis sie das Haus verlassenhatte, und eilte dann in die Küche, in der Ilga und die alte Ria das Abendessen zubereiteten.
»Vater will etwas Hühnersuppe und Wein haben. Trag du es ihm hoch, Ilga.« Er besann sich jedoch und hob die Hand. »Halt, nein! Für dich habe ich einen anderen Auftrag. Ria soll ihm das Essen bringen!«
Die Alte schniefte ärgerlich. »Du weißt doch, dass ich kaum mehr die Treppe hochkomme. Wie soll ich da Wein und Brühe hinauftragen?«
»Du wirst es schon schaffen. Ilga, du kommst mit mir!« Otfried ließ die alte Magd stehen und ging mit langen Schritten davon. Ilga folgte ihm auf dem Fuß, denn sie glaubte zu wissen, weshalb er nach ihr verlangte. Doch zu ihrer Verwunderung schlug er nicht den Weg ins Kontor ein, um sich mit ihr in der Geldkammer der Lust hinzugeben. Enttäuscht schniefte sie. Zwar war die Kiste, auf der sie liegen musste, mit
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