Die Pilgerin
Fröhlichkeit wunderte, begriff langsam, dass ihre ehemaligen Pilgerkameraden vieles von dem, was schlecht und schrecklich gewesen war, vergessen hatten – oder zumindest so taten. Sie wollten sich nur mehr an die schönen und die erhabenen Augenblicke erinnern und sprachen von der Majestät der Kathedralen und der Erhabenheit der Berggipfel, die sich an ihrem Weg in den Himmel gereckt hatten, oder von der Weite des Meeres und ihrem gemeinsamen Bad im salzigen Wasser des Ozeans.
»Gedenken wir auch derjenigen unserer Freunde, die auf diesem Weg zurückgeblieben sind. Möge Gott ihnen gnädig seinund ihnen das Tor zum Himmelreich öffnen.« Für einen Augenblick brachten Tillas Worte eine leichte Missstimmung in die Runde, dann aber sprachen alle ein Gebet für Bruder Carolus und den braven, etwas einfältigen Manfred.
Hedwig weinte sogar ein paar Tränen für sie. »Auch wenn ich das eine oder andere Mal über Manfred gelacht und den Karmeliter zu Beginn verachtet habe, würde ich Wunder was geben, wenn sie jetzt in unserer Runde säßen.«
»Im Geiste sitzen sie bei uns«, antwortete Vater Thomas und sprach ein kurzes, lateinisches Gebet.
Beide gaben Tilla unbewusst das Stichwort für ihre nächste Frage. »Ich vermisse Sepp. Er war doch Euer Gefolgsmann, Herr Rudolf.«
Über Starrheims Gesicht huschte ein fröhliches Lächeln. »Das ist er immer noch«, sagte er. »Ein sehr guter sogar! Ich habe ihn als Dienstmann auf eine Burg gesetzt, die er sorgsam für mich hütet. Er wäre gerne mitgekommen, doch sein Weib soll in diesen Tagen gebären und er wollte es nicht allein lassen. Er liebt es sehr, auch wenn er früher nicht in der Lage war, es ihm zu zeigen. Seinen Jähzorn hat er in Santiago abgelegt. Wisst ihr eigentlich, dass er es war, der Hugues de Saltilieu ermordet hat? Er hat es mir an dem Tag gestanden, an dem ich ihn zum Kastellan dieser Burg ernannt habe, denn er wollte nicht, dass ein Schatten zwischen uns stand.«
Vater Thomas atmete tief durch und nickte. »Er hat es mir schon viel früher gebeichtet, und ich glaube ihm, dass er es auch aus Sorge um uns tat, denn Saltilieu hätte uns gewiss verfolgt und erschlagen, weil wir Mademoiselle Felicia Beistand geleistet haben. Das hätten wir wohl nicht getan, wenn uns bewusst gewesen wäre, was für ein Weib sie ist.«
Erneut drohten dunkle Schatten sich der Gemüter zu bemächtigen. Sebastian brach schließlich den Bann, indem er auflachte und seinen Becher hob. »Auf Sepp, ohne den wir wahrscheinlich nicht an dieser Stelle sitzen und trinken würden! Hugues de Saltilieu war ein blutgieriger Wolf und hätte uns zerrissen wie Lämmer.«
»Was er Gott sei Dank nicht mehr tun konnte. Aber weiß jemand von euch, wie es Felicia de Lacaune und ihrem Gemahl jetzt ergeht?«, fragte Tilla, die ihre Neugier nicht im Zaum halten konnte.
Starrheim hob grinsend die Hand mit dem Becher und trank Sebastian zu. »Unser Freund Aymer ist inzwischen ein einflussreicher Höfling des französischen Königs Karl geworden und weiß – wie es heißt – sein Weib vor Anfechtungen zu schützen.« Er brach dabei in Lachen aus, denn am Hofe des Grafen von Béarn in Orthez hatte er einiges über den Lebenswandel der jungen Dame erfahren. Aymer de Saltilieu schienen diese Berichte ebenfalls bekannt gewesen zu sein, denn er hatte Vorkehrungen getroffen, um die übermütige Stute am kurzen Zügel zu führen.
Während sich das Gespräch wieder um andere Begebenheiten ihrer gemeinsamen Pilgerschaft drehte, lehnte Tilla sich mit dem Rücken gegen die Wand, streichelte gedankenverloren ihren leicht vorgewölbten Leib und spürte die ersten Bewegungen des Ungeborenen. Sie wundere sich ein wenig, weil keiner hier am Tisch ein Wort über Olivia und ihr verborgenes Tal verlor. Sie selbst erinnerte sich gerne daran und träumte so manche Nacht von der großgewachsenen Frau, die sie nur kurz hatte kennen lernen dürfen, und die ihr dennoch zu einer guten Freundin geworden war. Sollte ihr Kind eine Tochter sein, würde sie ihr wohl von Olivia und der geheimnisvollen Kirche berichten,in der kein Priester der Herr war, sondern ein gütiges Weib.
Bald aber lächelte Tilla über diesen wohl etwas abwegigen Gedanken, und als Sebastian sie übermütig neckte, fiel sie fröhlich in sein Lachen ein.
Geschichtlicher Überblick
Anno Domini 1368. In einer Zeit, in der die Menschen beinahe in allem, was um sie herum geschah, das Wirken übernatürlicher Kräfte zu sehen glaubten und sich davon
Weitere Kostenlose Bücher