Die Praktikantin
Deutschen Bank, sechs Flyer verschiedener Asia-Imbisse (»Das probieren müssen!«) und den letzten Newsletter von Professor Michelsen. Seit er irgendwo gehört hatte, wie wichtig ein regelmäßiger Meinungsaustausch mit den Führungskräften ist – »Es darf eigentlich keine Woche vergehen, in der Sie Ihre Meinung nicht gegen meine austauschen«, hatte er einmal im kleinen Kreis und, Anführungszeichen unten, im Scherz, Anführungszeichen oben, gesagt –, schickte er jeden Monat die »Post vom Aufsichtsrat« raus. Die neue Ausgabe hatte ich noch nicht gelesen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
heute möchte ich mit Ihnen über die drei wichtigsten Werte sprechen, die es für Führungskräfte aller Couleur in unserem Hause gibt. Erstens: Loyalität. Zweitens: Loyalität. Und drittens, Sie werden es ahnen: Loyalität. Loyalität zu diesem meinem und Ihrem Unternehmen und seinen Zielen, Loyalität gegenüber den direkten Vorgesetzten, aber auch und vor allem gegenüber den Aktionären.
Nur wer sich selbst zurückstellt hinter den Interessen des Verlages, wer bereit ist, unbequeme Aufgaben zu übernehmen und der Firma dort zu dienen, wo sie ihn braucht – nur der wird bei uns wirklich erfolgreich sein und seinen Weg machen können. Fragen Sie nicht, was wir für Sie tun können, sondern fragen Sie, was Sie für das Unternehmen tun können. Tragen Sie diese Kultur in alle Ihre Bereiche hinein. Sie muss in der Zentrale in München genauso
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gelebt werden wie bei unseren TV-Sendern in Köln und den vielen kleinen Lokalzeitungen, an denen wir die Mehrheit haben oder maßgeblich beteiligt sind.
Wützen Sie Ihre Chance, das Unternehmen nach vorn zu bringen. Denn nur das bringt auch Sie nach vorn. In diesem Sinne:
Bleiben Sie loyal.
Ihr Professor Michelsen
Wützen Sie Ihre Chance? Konnte ich nach den Rückschlägen der vergangenen Tage nicht einmal mehr richtig lesen? Bekam ich angesichts der drohenden Zwangsversetzung in die Kleinstadt Wahrnehmungsstörungen grotesken Ausmaßes? Doch da stand es, als wolle die »Post vom Aufsichtsrat« mir ein Zeichen geben:
Wützen Sie Ihre Chance!
Hatte der Professor eigens für mich diesen Fehler einbauen lassen, damit ich an höhere Mächte glaubte und sofort alle Verbindungen in München abbrach, um mein Glück in der tiefsten aller Provinzen zu finden? Oder hatte die Volkmann auf ihrer schmalen Tastatur einfach nur zwei Zeilen zu hoch und ein paar Tasten zu weit nach links gegriffen?
Egal, wie: Die Botschaft war angekommen. Michelsen wollte mich testen, mich und meine natürlich nicht enden wollende Loyalität zu ihm und seinem Unternehmen. Wützen war die Generalprobe vor meiner Uraufführung bei den
Metro-News
. Nur einmal Demut zeigen, tiefe und unverbrüchliche Verbundenheit, ein halbes Jahr, ein Jahr vielleicht. Ohne Murren ans Ende der Welt gehen, die Arbeit machen, die der Professor von mir verlangte. Und dann: Chefredakteur bei den
Metro-News
, als Vertrauensmann des Verlegers, als einer der wenigen, auf die er sich verlassen kann. Ich habe verstanden, Professor Michelsen, dachte ich, als Martin Luther King schon wieder einen Traum hatte.
Ich nahm Maries Handy vom Tisch, sah auf dem Display ein Foto ihrer Mutter und eine Nummer aufblinken. Ich Idiot! Vorsichtig drückte ich auf die Taste mit dem grünen Hörer, als könnte |26| mich die Mutter dabei sehen, wie ich, der versagende Schwiegersohn, verbotenerweise an das Handy ihrer Tochter ging.
»Hallo«, sagte ich mit leiser und verstellter Stimme.
»Marie, wo bist du?«, fragte ihre Mutter, ohne eine Antwort abzuwarten. »Der Zug nach Genf fährt in fünfzehn Minuten, ich bin schon am Gleis. Wo bleibst du denn, du wolltest doch längst da sein? Hast du überhaupt ein Ticket? Marie, nun sag doch mal was! Marie …«
Ich war schon längst im Treppenhaus.
»Frau Böhmer, hier ist Johann. Marie hat ihr Handy zu Hause vergessen. Sie darf nicht wegfahren, ich habe für alles eine Erklärung, sagen Sie ihr das. Sie soll auf mich warten, ich bin in zehn Minuten da. Haben Sie verstanden?«
»Johann«, die Stimme klang, als hätte ihr gerade ein Polizeibeamter erklärt, dass ihr Ex-Mann ihre beiden Töchter erst vergewaltigt und dann zerstückelt habe, »Sie … was erlauben Sie sich? Wie kommen Sie an Maries Handy? Was wollen Sie ihr erklären nach dieser Blamage vor ihren besten Freunden und engsten Verwandten? Nichts werde ich ihr ausrichten, gar nichts. Soll ich Ihnen was verraten: Meine Tochter steht
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