Die Praktikantin
Kilometer von der holländischen Grenze entfernt. Nächste größere Städte sind Duisburg, Bottrop und Rheinberg. Das Stadtgebiet ist in die fünf Stadtteile Innenstadt, Flohhügel, Anderbruch, Miesacker und Depinghof unterteilt. Ausgangspunkt der historischen Entwicklung Wützens wird eine Motte gewesen sein, ein Wohnhügel mit Graben und Schutzwall, an der Stelle …«
»Ist ja gut, Eva.«
Maries Schwester hatte Wützen in ihrem Blackberry gegoogelt und war dabei, mitten im Tantris laut aus Wikipedia vorzulesen. Jetzt war sie offensichtlich auf www.wuetzen.de gelandet.
»Hört mal, was hier steht: Wützen ist eine überschaubare, beschauliche Stadt mit 62458 überwiegend netten Menschen. Wo bei uns …«
Ich nahm Eva das Gerät aus der Hand.
»Es reicht.«
»Lassen Sie sie doch, Johann«, sagte Maries Mutter. »Ich würde zu gern wissen, in welcher Umgebung meine Enkelkinder aufwachsen müssen, nur weil ihr Vater …«
»Jetzt fangen Sie nicht auch noch an.« Maries Mutter hatte mir trotz Verlobung bisher nicht das Du angeboten. »Schatz, willst du nicht auch mal was sagen?«
Es war das erste Mal, seit ich das böse Wort
Wützen
ausgesprochen hatte, dass Marie von ihrem leeren Champagnerglas aufsah. Sie schaute mich an, als hätte ich ihr gerade eine Affäre mit sämtlichen Mitgliedern ihrer Tennismannschaft gebeichtet, |20| drehte sich langsam auf ihrem Stuhl herum und erwischte gerade noch den Kellner, der am Tisch vorbeischleichen wollte.
»Können wir zahlen, bitte?«
Die Feier, die keine war, kostete mich 170 Euro. Ich gab kein Trinkgeld.
»Was hast du gemacht? Was hast du dem Alten gesagt? Wie kann man nur so dumm sein, und …«
»Marie, ich kann doch nichts dafür, dass …«
»Da bist du kurz davor, Chefredakteur der Metro-News zu werden, nach all den Jahren in der zweiten, dritten und was weiß ich wievielten Reihe, und was machst du? Du versaust es. Hast du eine Affäre mit Michelsens Frau gehabt oder mit seiner Sekretärin oder warum schickt er dich in die Verbannung? Wützen, das kann echt nicht dein Ernst sein, Johann.«
Sie hatte kurz nach unserer Ankunft in der Wohnung eine Flasche Gin aufgemacht und begonnen, direkt daraus zu trinken. Ich versuchte zu antworten, aber sie wollte mich nicht hören.
»Hast du ihm nicht gesagt, dass wir gerade erst eine Wohnung in München gekauft haben? Dass wir in der Marienkirche heiraten wollen? Und dass du bei den Metro-News sowieso seit Monaten die ganze Arbeit machst, nie weniger als sechzig Stunden in der Woche, und Wenninger nicht mal mehr zum Interview mit dem Ministerpräsidenten mitgekommen ist, diese faule Sau.«
Wenninger war der Chefredakteur der
Metro-News
. Mein Vorgänger. Hatte ich zumindest bis vor wenigen Stunden gedacht.
»Wie stellst du dir das jetzt vor, Johann? Sollen wir das hier alles wieder verkaufen, das Laminat und die Einbauküche rausreißen, um auf einen idyllischen Bauernhof nach Wützen zu ziehen, in das beschauliche Städtchen mit den überwiegend netten Menschen? Willst du künftig im Wützener Stadttheater viertklassige Musikanten sehen, statt die Stones im Olympiastadion? Und dich abends mit dem Landfrauenverband treffen statt mit Seehofer, schön im Dorfkrug? Johann, du hast doch Michelsen |21| hoffentlich gesagt, dass das für dich nicht in Frage kommt und du eher kündigst, als dahin zu gehen, oder?«
»Na ja, nicht so direkt. Ich habe mir Bedenkzeit ausgebeten …«
»Ich fass es nicht. Was gibt es da zu bedenken? Wir gehen natürlich nicht da hin. Wir bleiben in München. Ich bleibe in München, Johann.«
Die Ginflasche war halb leer. Marie hatte sich ihren kurzen, dunkelblauen Rock ausgezogen. Darunter trug sie einen winzigen, durchsichtigen String, den ich noch nie gesehen hatte.
»Ja, guck nur, du Versager. Den habe ich mir extra für heute Abend gekauft. Das wäre eine deiner Belohnungen gewesen, wenn du dich nicht so dämlich angestellt hättest.«
Sie riss sich die auf wundersame Weise miteinander verbundenen Fädchen von der Hüfte und schleuderte sie in meine Richtung. Jetzt sah ich nur nackte Haut.
»Du bleibst heute Nacht hier im Wohnzimmer. Ich schlafe nicht in einem Bett mit einem Verlierer.«
Wir sahen uns erst am nächsten Morgen wieder. Als ich die Augen aufschlug, stand Marie mit der dunkelblauen Longchamp-Tasche, die ich ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, vor dem Sofa.
»Ich fahre zu meiner Mutter, Johann. Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns eine Zeitlang nicht sehen. Du kannst
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