Die Priesterin von Avalon
wobei der heilige Moment festgelegt wurde, an dem Tag und Nacht gleich sind, wenn sich eine Pforte zwischen Vergangenheit und Zukunft auftut und ein Eingeweihter vielleicht zwischen die Welten schauen kann.
Der Kreis öffnete sich. Unser Blick fiel auf eine verschleierte, von Wren und Aelia gestützte Gestalt, die sie sorgsam zu dem dreibeinigen Schemel führten und ihr halfen, bis sie dort ihr Gleichgewicht gefunden hatte. Der heilige Trank hat rasch gewirkt , dachte ich, als ich sie so sah. Möge die Göttin geben, dass er nicht zu stark ist…
Früher, so hatte ich gelernt, war die Göttin selbst angerufen worden, damit sie durch den Mund IHRER Priesterin spreche. Obwohl die Götter zuweilen herabkamen, um an ihren Festen mit uns zu tanzen, hielt man es jetzt für nützlicher, wenn die Seherin sich öffnete und alle Persönlichkeiten, einschließlich ihrer eigenen, ablegte und nur die Bilder zu beschreiben trachtete, die sie vor sich sah.
Die Hohepriesterin trat vor und stellte sich neben sie. Der kleine Tisch mit der Silberschale stand bereits vor der Seherin. Neben anderen Kräutern schwammen Mistelbeeren darin. Von meinem Platz aus sah ich das Glitzern der Fackeln auf dem dunklen Wasser. Ich spürte, wie ich zu schwanken begann, und blinzelte, um den Zauber zu brechen. Dann wandte ich den Blick ab in der Hoffnung, dass niemand meine vorübergehende Verstörtheit bemerkt hatte.
»Sinke herab, sinke tief… immer tiefer, versenke dich…«
Ganedas Stimme kam wie ein Raunen, das die Seherin auf ihrer Reise nach innen geleitete, weit hinab, bis die Schale schimmernden Wassers eins mit dem heiligen Brunnen neben der weißen Zypresse wurde. Dann richtete die Hohepriesterin sich auf und trat zurück.
»Was geht jetzt bei den Römern vor? Was macht Kaiser Claudius jetzt?«, fragte Arganax.
Ein langes Schweigen trat ein.
»Sag uns, Seherin, was siehst du?«, forderte Ganeda sie auf.
Ein Schaudern durchlief die dünnen Falten des Schleiers. »Ich sehe… Zypressen vor einem Abendhimmel… nein, es ist Feuerschein. Sie verbrennen Leichen… einer der Zuschauer stolpert und fällt…« Heron sprach leise und mit ruhiger Stimme, als sähe sie von einem Aussichtspunkt zu, der nicht auf dieser Welt war. »Das Bild verändert sich… ein alter Mann liegt in einem Zimmer, das von Reichtum zeugt. Sein Bett ist mit Purpur verkleidet, aber er ist allein… er ist tot… Wollt ihr noch mehr wissen?«
»Die Pest…«, flüsterte jemand. »Mögen die Götter geben, dass sie nicht hierher kommt…«
»Ist die römische Macht am Ende? Werden sie wieder nach Britannien kommen?«, fragte der Druide, und diesmal antwortete Heron ohne nochmalige Aufforderung.
»Ich sehe Armeen und Schiffe - Britannier kämpft gegen Britannier… Blut, Blut und Feuer…« Verwirrt schüttelte sie den Kopf, als seien die Bilder zu viel für sie.
»Versenke dich wieder an die Stelle, an der nur das glitzernde Wasser ist«, sagte Ganeda leise. »Sag mir, wer wird uns zu Hilfe kommen?«
Heron erstarrte. »Die Sonne! Die Sonne strahlt in aller Pracht! Sie blendet mich!« Einen Augenblick lang verharrte sie wie gelähmt, dann stieß sie mit einem langen Seufzer den Atem aus. »Ah - Er kommt… seine Rüstung ist römisch, aber seine Augen sind die eines Menschen, der die Mysterien kennt. Da ist eine Stadt… Ich glaube, es ist Londinium. Die Menschen auf den Straßen jubeln - ›Redditor lucis… redditor!‹«
Sie stolperte über das ungewohnte Latein, doch ich konnte es übersetzen: Erneuerer des Lichts!
Auch Arganax verstand die Worte. Er tauschte einen Blick mit Ganeda. »Wenn dieser Mann ein Eingeweihter ist, könnte er uns von großer Hilfe sein«, sagte er mit leiser Stimme. Dann beugte er sich wieder vor.
»Wer ist es - nein, wo befindet er sich in diesem Augenblick?« Erneut schwankte Heron über der Seherschale. »Ich sehe ihn… aber er ist jünger. Haare wie Löwenzahn…«, fügte sie als Antwort auf weitere Fragen hinzu. »Er reitet auf einem kastanienbraunen Maultier über eine römische Straße… aber es ist in Britannien… die Straße zu den Bleiminen in den Bergen…«
»Hier!«, rief Arganax aus. »Bestimmt ist es der Wille der Götter, dass er zu uns kommt.«
Die Seherin murmelte noch vor sich hin, doch bei den Worten des Druiden richtete sie sich auf und zitterte wie eine Bogensehne, von der ein Pfeil abgeschossen wurde. »Schicksal!«, wiederholte sie und rief dann plötzlich mit dröhnender Stimme, die nicht ihre eigene
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