Die Priesterin: Wild Roses, Staffel 1, Band 4 (German Edition)
„geht das Ritual gut voran.“
Glynis nickte. Dann setzte sie sich, stand jedoch gleich darauf wieder auf. „Hier fehlt etwas“, behauptete sie. Sie ging zu einem Weinregal neben dem Kühlschrank, nahm eine Flasche Bordeaux heraus und öffnete sie. Dann kehrte sie an den Tisch zurück und füllte ihre vier Gläser mit der dunkelroten, funkelnden Flüssigkeit. Sie hob ihr eigenes Glas. „Auf das Ritual“, sagte sie. „Möge es diesmal gelingen!“
Sie führte ihr Glas an die Lippen, aber sie trank nicht, sondern beobachtete Rose sehr genau. Der Geruch des Räucherwerkes wehte aus dem Wohnzimmer herein. Rose begegnete dem Lächeln der Priesterin, dann trank sie selbst einen Schluck. Während der Wein herb und kühl ihre Kehle hinabfloss, murmelte Glynis irgendetwas auf Bretonisch, und Rose wunderte sich. Es hatte geklungen wie der Spruch, mit dem Glynis festlegte, in welche Zeit sie als Nächstes springen würde.
Alan wandte ihr den Kopf zu. Auf seinen Zügen lag ein fragender Ausdruck, aber Glynis lächelte auch ihm einfach zu und ignorierte ihn dann.
Als sie ihre Mahlzeit beendet hatten, stand Glynis auf. „Ich brauche ungefähr noch eine halbe Stunde, dann können wir beginnen.“ Mit diesen Worten verschwand sie erneut im Wohnzimmer und zog die Tür hinter sich zu.
Rose konnte sie dahinter leise murmeln hören.
Sie seufzte. „Und nun?“
Enora reckte sich. „Ich glaube, ich bin schon wieder müde. Ich lege mich zehn Minuten aufs Bett. Weckt mich, wenn es losgeht, ja?“
Alan versprach es ihr. Dann stand auch er auf. „Ich bin draußen auf der Terrasse“, sagte er zu Rose.
Sie nickte ihm zu und er verließ ebenfalls die Küche.
Rose blieb allein zurück. Sie schaute auf die Reste ihres Mittagessens, pickte ein paar Käsekrümel auf und schob sie sich in den Mund. Dann machte sie sich daran, den Tisch abzuräumen. Als sie damit fertig war, waren von der angekündigten halben Stunde noch immer mehr als zwanzig Minuten übrig.
Rose seufzte. Wieder musste sie an das denken, was Alan und Enora offenbar versuchten, vor ihr verborgen zu halten.
Enora war in der Lage, ihr die Erinnerungen an frühere Leben zurückzugeben? Warum tat sie es dann nicht?
Ein anderes Detail schoss Rose durch den Kopf.
1913.
Warum nur tauchte diese Jahreszahl immer wieder auf? Was hatte es damit auf sich? Was war nur 1913 geschehen, dass die beiden stets so erschrocken aussahen, wenn auch nur das Gespräch darauf kam?
Plötzlich fiel Rose das Foto ein, das sie bei ihrem ersten Besuch in Glynis’ sonderbarem Haus in den Händen gehalten hatte. Sie selbst war darauf gewesen – in einem Kleid und mit einer Frisur, die ungefähr aus dem Jahr 1913 hätte stammen können.
1913.
Glynis hatte das Foto eilig weggepackt. Warum?
Rose schaute auf die Uhr. Sie hatte noch genug Zeit, um zu Glynis’ Hütte und wieder zurück zu gehen. Sie beschloss, die übrig gebliebenen zwanzig Minuten nicht mit Herumsitzen zu verbringen, sondern einen kleinen Spaziergang zu machen.
Glynis’ Hütte stand am Ufer des Weihers, als sei das nichts Besonderes. Nichts wies darauf hin, dass die Bewohnerin dieser Mauern den größten Teil der vergangenen zweitausend Jahre in der Anderswelt verbracht hatte. Der Verputz der Wände sah frisch aus, weiß und sauber, als habe man ihn eben erst erneuert. Die Wildrosen, die sich über Wände und das halbe Dach rankten, bewegten sich leise im Wind, der über das Wasser wehte. Tief sog Rose ihren intensiven Duft ein.
Dann fasste sie sich ein Herz.
Sie streckte die Hand nach dem Riegel aus und hob ihn hoch. Die Türangeln quietschten leise, als Rose die Tür aufdrückte. Im Inneren des Hauses war es still, dämmerig und ein wenig stickig. Rose glaubte, den schwachen Geruch von Ziegen wahrnehmen zu können, und sie schmeckte Holzrauch. Zögerlich trat sie ein.
Der alte Schreibtisch, der ihr bei ihrem ersten Besuch hier so sonderbar aus der Zeit gefallen vorgekommen war, stand dort, wo sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Sie atmete einmal tief ein, dann trat sie vor den Tisch hin.
Als sie die Schublade aufzog, fühlte sie sich wie ein Kind, das genau wusste, dass es etwas Verbotenes tat. Aber sie konnte einfach nicht anders. Sie musste einen Blick auf dieses Foto werfen.
Es lag noch genauso da, wie Glynis es hineingeworfen hatte – mit dem Bild nach unten. Rose hob das Foto aus der Schublade und drehte es um.
Sie war darauf gefasst, in ihr eigenes Gesicht zu blicken, und sie hatte geglaubt, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher