Die Prinzen von Amber (5 Romane in einem Band)
wieder sehen zu können, war einfach unbeschreiblich! Und mich in Freiheit zu bewegen ...
Mein zerschlissener Umhang flatterte im Morgenwind, während ich tüchtig ausschritt. Ich muß über fünfzig Jahre alt ausgesehen haben, mit meinem faltigen Gesicht, dem abgemagerten, dürren Körper. Wer hätte in mir den Mann erkannt, der ich wirklich war?
Meine Schritte führten mich durch die Schatten, auf einen Ort zu. Doch so sehr ich die Füße bewegte, so sehr ich durch die Schatten schritt, einem bestimmten Ort entgegen
– ich erreichte dieses Ziel nicht. Offenbar war ich doch etwas weichherzig geworden. Es geschah das folgende ...
Ich stieß auf sieben Männer am Straßenrand. Sechs waren tot, grausig zerstückelt. Der siebente lehnte halb zurückgeneigt mit dem Rücken am moosbedeckten Stamm einer alten Eiche. Er hielt die Klinge im Schoß, und an seiner rechten Flanke schimmerte eine große Wunde, aus der Blut strömte. Im Gegensatz zu etlichen Toten trug er keine Rüstung. Seine grauen Augen waren offen, wirkten allerdings ziemlich glasig. Die Knöchel seiner Schwerthand waren auf geschunden, und er atmete nur sehr langsam. Unter buschigen Brauen hervor beobachtete er die Krähen, die den Toten die Augen aushackten. Mich schien er nicht wahrzunehmen.
Ich streifte die Kapuze über und senkte den Kopf, um mein Gesicht zu verbergen. Dann trat ich näher.
Ich hatte ihn früher einmal gekannt – ihn oder einen Mann, der ihm sehr ähnlich war.
Als ich mich näherte, begann seine Klinge zu zucken; die Spitze wurde gehoben.
»Ich bin ein Freund«, sagte ich begütigend. »Möchtet Ihr einen Schluck Wasser?«
Er zögerte einen Augenblick lang und nickte dann.
»Ja.«
Ich öffnete meine Flasche und reichte sie ihm.
Er trank und hustete, setzte die Flasche erneut an.
»Sir, ich danke Euch«, sagte er und gab mir die Flasche zurück. »Ich bedaure nur, daß das Getränk nicht kräftiger war. Verdammte Wunde!«
»Auch damit bin ich versorgt. Seid Ihr sicher, daß Ihr so etwas vertragt?«
Er streckte die Hand aus. Ich entkorkte eine kleine Flasche und reichte sie ihm. Nach einem Schluck von dem Zeug
,
das Jopin immer trinkt, hustete er etwa zwanzig Sekunden lang.
Dann lächelte die linke Seite seines Mundes, und er blinzelte mir zu.
»Das ist schon viel besser«, sagte er. »Hättet Ihr etwas dagegen, wenn ich ein paar Tropfen davon auf die Wunde schütte? Ich verschwende ungern guten Whisky, aber ...«
»Nehmt alles, wenn Ihr müßt. Doch wenn ich es mir recht überlege – Eure Hand scheint ziemlich zittrig zu sein. Vielleicht sollte ich das lieber besorgen.«
Er nickte, und ich öffnete seine Lederjacke und schnitt mit dem Messer sein Hemd auf, bis ich die Wunde freigelegt hatte. Es war ein böse aussehender tiefer Schnitt, der sich einige Zentimeter über dem Hüftknochen bis zum Rükken herumzog. An Armen, Brust und Schultern hatte er weitere, weniger schlimme Verwundungen erlitten.
Aus der großen Öffnung quoll das Blut, ich tupfte es ab und wischte mit meinem Taschentuch die Wundränder sauber.
»Gut«, sagte ich. »Jetzt beißt die Zähne zusammen und wendet den Blick ab.« Ich ließ den Whisky herabtropfen.
Ein gewaltiger Ruck ging durch seinen Körper, dann sank er herab und begann zu zittern. Doch kein Laut kam über seine Lippen, womit ich auch nicht gerechnet hatte. Ich faltete das Taschentuch zusammen und drückte es mitten auf die Wunde. Dort band ich es mit einem langen Stoffstreifen fest, den ich mir unten von meinem Umhang abgerissen hatte.
»Noch einen Schluck?« fragte ich.
»Wasser«, sagte er. »Dann muß ich wohl schlafen.«
Er trank, dann neigte sich sein Kopf nach vorn, bis das Kinn auf der Brust ruhte. Er schlief ein, und ich machte ihm ein Kissen und bedeckte ihn mit den Mänteln der Toten.
Schließlich saß ich an seiner Seite und beobachtete die hübschen schwarzen Vögel bei ihrem grausigen Mahl.
Er hatte mich nicht erkannt. Aber wer konnte mich in meinem Zustand schon erkennen? Hätte ich mich ihm offenbart, wäre ihm mein Name vielleicht bekannt vorgekommen. Wir hatten uns wohl nie richtig kennengelernt, dieser Verwundete und ich. Doch auf eine seltsame Weise waren wir doch miteinander vertraut.
Ich schritt durch die Schatten und suchte einen Ort, einen ganz besonderen Ort. Dieser Ort war vor langer Zeit zerstört worden, doch ich besaß die Macht, ihn wiedererstehen zu lassen, denn Amber strahlt eine Unendlichkeit von Schatten aus. Ein Kind Ambers – und das bin
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