Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
legte sie den Finger auf die Lippen. Im Tower musste man immer damit rechnen, belauscht zu werden.
»Erzählt mir alles Neue vom Hof«, bat sie, und ich berichtete ihr allen Klatsch, der mir bekannt war. Früher einmal hatte ich nichts wissen wollen von London und der Welt. Heute jedoch hielt ich es für klug, stets gut unterrichtet zu sein. Sie reichte mir eine angefangene Stickerei, und wir widmeten uns gemeinsam der Nadelarbeit. Wir sprachen nicht von den geliebten Menschen, die gestorben waren, und auch nicht von jenen, die uns verlassen hatten. Es war, als leistete ich ihr Gesellschaft in ihrem Salon.
Nur Augenblicke schienen mir vergangen zu sein, als der Schlüssel im Türschloss knirschte und es für mich Zeit war, zu gehen.
Gardiner wartete an der Tür.
»Muss sie mich denn wirklich verlassen?«, fragte Gertrude. Sie versuchte, einen leichten Ton anzuschlagen, doch ihre Stimme zitterte.
Ich umarmte sie noch einmal, und sie hielt mich so fest, als besäße ich allein die Kraft, sie zu erlösen.
»Bereut Ihr es?«, flüsterte ich dicht an ihrem Ohr. Das war die Frage, die mich nicht losließ. Bereute sie es im Angesicht all dessen, was sie verloren hatte – ihren Mann, ihren Sohn, ihre Freiheit und ihr Vermögen –, und all dessen, was mir angetan worden war, dass sie sich auf die Verschwörung gegen den König eingelassen hatte?
» Niemals «, zischte sie.
Mit einem letzten Gruß ließ ich Gertrude Courtenay in ihrer Zelle zurück. Augenblicke später stand ich wieder auf dem Anger des Tower. Der Winter war fast vorbei. Im schwachen Märzsonnenschein sahen die wenigen Flecken Schnee, die noch übrig waren, grau und traurig aus.
Der Bell Tower war nicht weit. Dort war ich Edmund das erste Mal begegnet.
Ja, ausgerechnet Gardiner hatte uns zusammengebracht. Hatte er uns auch voneinander getrennt? Edmund war fort, weit fort, ob immer noch im deutschen Schwarzwald, wusste ich nicht. Ach, wäre es mir nur möglich gewesen, zu erfahren, wo er sich aufhielt, um noch einmal mit ihm sprechen zu können.
Ich hatte den Mut gefunden, Gertrude die Frage zu stellen, die mir lange auf der Seele gebrannt hatte. Jetzt wollte ich auch von Gardiner Klärung fordern.
»Exzellenz«, sagte ich, »habt Ihr an mich gedacht, als Ihr den Gesetzesartikel verfasst habt, der allen, die das Keuschheitsgelübde abgelegt haben, die Eheschließung verbietet? Wusstet Ihr, dass Edmund Sommerville und ich uns verlobt hatten?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe es Euch schon im Winchester-Palast gesagt, Joanna. Seine Majestät wünscht solche Heiraten nicht. Er ist ein Mann von Prinzipien, falls Ihr das nicht wissen solltet.«
Er blieb stehen und wandte sich mir zu. Ein schwaches Lächeln umspielte seinen Mund. »Habt Ihr wirklich geglaubt, dass die Religionspolitik für das gesamte Königreich einzig formuliert wurde, um Euch zu treffen? Aus Rache vielleicht von meiner Seite, wegen Eures Scheiterns bei der Suche nach der Athelstan-Krone – oder wegen jüngerer Verstöße gegen meine Wünsche?«
Ich sah Gardiner unbeirrt an und schwieg. Schließlich bedeutete er mir weiterzugehen. Jacquard Rolin, der Herzog von Norfolk, selbst Botschafter Chapuys – alle hatten sie mich bedroht, benutzt und bedrängt, ohne sich um mein Wohl oder selbst mein Leben zu sorgen. Dennoch war Stephen Gardiner, Bischof von Winchester, noch immer der Mann, den ich am meisten fürchtete.
»So wichtig wart Ihr nie.« Als wir die schmale Brücke über den Graben erreichten, fügte er hinzu: »Nicht jedem ist es bestimmt, in den Angelegenheiten der Welt eine bedeutsame Rolle zu spielen, Joanna.«
»Ich werde es mir merken, Exzellenz«, sagte ich.
Im Licht der noch winterlichen Sonne, das auf der Themse glitzerte, ließ ich an Stephen Gardiners Seite den Tower of London hinter mir.
Danksagung
Ich habe einen großen Teil dieses Buchs im Wertheim Study der New York Public Library geschrieben, im Stephen A. Schwarzman Building. Ohne meinen festen Platz am Tisch und mein eigenes Fach Nr. 92 wäre ich verloren gewesen. Danke, Jay Barksdale, dass Sie mir den Platz dort zur Verfügung gestellt haben! Im Lauf meiner Arbeit ging der Herbst 2010 in den Winter über, der sich langsam zum Frühling erwärmte, bis schließlich, während ich noch immer über meinem Manuskript saß, der Sommer kam. Als ich Ende 2011 meinen ersten Entwurf fertig hatte, fielen im Bryant Park die ersten Schneeflocken.
Bei meinen Recherchen zu den unruhigen Zeiten Ende der
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