Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
dem Stadtplatz von Gent. Gewalt gebiert Gewalt – und neue Gewalt.
»Diese schändliche Rebellion muss ein für alle Mal niedergeworfen werden«, erklärte Gardiner mit Zorn in der Stimme. »Wenn das Volk seinen Herrscher stürzt und glaubt, sich selbst regieren zu können – so ist das eine Bizarrerie, die nicht geduldet werden kann. Die Strafzahlungen, die man diesen Leuten auferlegen wird, werden die Stadt für Generationen lahmlegen.«
Er hielt inne, als wartete er auf ein Wort von mir.
»Das ist sehr interessant«, sagte ich.
»O ja.« Gardiner warf mir einen scharfen Blick von der Seite zu. »Aber in den Niederlanden ereignen sich ja viele interessante Dinge, nicht wahr?«
Ich hatte mich oft gefragt, ob Gardiner geahnt hatte, warum die Spitzel, die er mir auf die Fersen gesetzt hatte, verschwunden waren wie von der Erde verschluckt. War es ihm je gelungen, mit Sicherheit festzustellen, dass ich die Frau war, mit der Jacquard Rolin England verlassen hatte? Von mir hatte er nur die Geschichte gehört, die ich allen erzählt hatte, dass ich auf den Kontinent gereist war, um Edmund Sommerville zu suchen, ohne ihn jedoch zu finden. Niemand hatte sich je mit Einzelheiten meiner Reise befasst. Ich hatte Hantaras nie wiedergesehen. Und Jacquard war nicht nach England zurückgekehrt – soweit ich wusste.
Am Beauchamp Tower erbot sich einer der Wachen, uns zu begleiten.
»Das ist nicht nötig, ich kenne den Weg«, lehnte Gardiner ab.
Ich folgte ihm die ausgetretenen Steinstufen der Haupttreppe hinauf in das zweite Stockwerk. Ich erinnerte mich der Mulden, die die Füße zahlloser Gefangener über die Jahre in ihnen hinterlassen hatten.
»Der König war gestern Abend wieder im Winchester-Palast«, bemerkte Gardiner. »Ich hatte die Ehre, ihm ein Fest mit großem Gastmahl ausrichten zu dürfen. Ich habe ihn seit Monaten nicht mehr so guter Dinge gesehen. Die kleine Catherine Howard konnte gar nicht aufhören zu tanzen.«
Ich blieb stehen. »Catherine Howard war auf Eurem Fest?«
»Natürlich«, antwortete er. »Ah, hier sind wir richtig.«
Wir schritten einen Gang hinunter bis zur vorletzten Tür. Dort erwartete uns eine Wache.
»Schwester Joanna«, sagte Gardiner, »ich vergaß, Euch etwas auszurichten. Der König wünscht Euch zu einer Audienz bei Hof zu sehen. Er beabsichtigt, eine Serie von Tapisserien bei Euch in Auftrag zu geben. Ihm missfällt alles an seiner vierten Gemahlin bis auf eins: die Phönix-Tapisserie, die sie ihm zur Hochzeit geschenkt hat. Die in Eurer Werkstatt gefertigt wurde.«
Ich starrte ihn an, unfähig, meine Bestürzung zu verbergen.
Mit einem dünnen Lächeln der Genugtuung winkte Gardiner der Wache, uns einzulassen.
Gertrude Courtenay saß mit einem Buch in den Händen in einem Sessel am Feuer. Die Zelle bot viele Bequemlichkeiten, alle von ihren Freunden bezahlt, da das gesamte Vermögen der Familie Courtenay schon vor vielen Monaten eingezogen worden war.
Sie trug ein grünes Kleid und zierliche Schuhe, jedoch keinen Schmuck. Das wäre unpassend gewesen. Ihr Gesicht war welk geworden, doch das Feuer in den braunen Augen sprühte ungebrochen.
»Joanna – Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie sehr Ihr mir gefehlt habt«, rief sie. Auch der melodische Klang ihrer Stimme war unverändert.
»Ich bin in einer Stunde zurück«, bemerkte Gardiner.
»Danke Euch, Exzellenz«, sagte Gertrude. »Ich werde Euch nie vergessen, was Ihr für mich getan habt.«
»Ihr wisst, ich werde auch weiterhin tun, was ich kann – aber Ihr müsst Geduld haben«, sagte er und bedeutete mir dann, zu Gertrude zu gehen. Die Tür wurde hinter mir verschlossen.
»Ihr seht gut aus, Joanna«, sagte sie. »Kommt, umarmt mich.«
Ich legte meine Arme um den zarten Körper, der so voller Leidenschaft war.
»Ich höre, man wird Euch vielleicht freilassen«, sagte ich und spürte die plötzliche Anspannung.
»Aber nicht meinen Sohn«, flüsterte sie. »Er wird diesen Ort nicht verlassen, solange der König lebt.«
Sie atmete tief, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Gemeinsam gingen wir zum Feuer und setzten uns. »Wie ich höre, ist die Ehe mit Anna von Kleve nie vollzogen worden«, bemerkte sie.
»Nein«, bestätigte ich. »Alle Welt weiß, dass der König sie vom ersten Moment an nicht ausstehen konnte. Es heißt, dass seine Räte nach einem Grund für eine Scheidung suchen. Sie wird keinen Sohn gebären. Sie wird ihm keinen zweiten Sohn schenken.«
Wir sahen einander einen Moment schweigend an. Dann
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