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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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Wie konnten Sie zulassen, dass Alice Henry mitnimmt? Er ist doch noch ein Kind!« Ich gebe mir keine Mühe, meinen anklagenden Ton zu unterdrücken, obwohl ich weiß, dass ich ungerecht bin. Immerhin ist Alice Henrys Schwester. Warum sollte sie ihn nicht zu einem Spaziergang an der frischen Luft mitnehmen, selbst an einem solch trüben Tag wie heute, wenn es sein Wunsch ist? Warum sollte Margaret Grund haben, hinter Alices Handlungen etwas anderes als schwesterliche Liebe und Pflichterfüllung zu sehen?
    Ihre Miene verhärtet sich. »Nun, wenn Sie es genau wissen wollen: Es war Miss Alice, die darauf bestand, etwas Zeit mit ihrem Bruder allein zu verbringen. Und sie machte kein Geheimnis aus der Tatsache, dass sie die Herrin auf
Birchwood ist und nicht Miss Virginia. Und dass sie mir keinerlei Rechenschaft schuldet. Das waren genau ihre Worte, Miss: ›Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig, Margaret.‹ Es tut mir wirklich leid, aber ich konnte nicht das Mindeste tun.«
    Ich wirbele zu Sonia und Luisa herum. »Bleibt hier. Egal, was geschieht, verlasst nicht das Haus.« Ich greife mir meinen Mantel und öffne die Tür. Dann bin ich draußen in der beißenden Kälte.
    Ich gehe ums Haus herum und sehe sie am Flussufer stehen. Die ersten Regentropfen fallen. Ich bleibe stehen und hebe den Kopf. Ein kalter Tropfen klatscht auf meine Wange.
    Dann renne ich los.
    Meine Röcke schlagen schwer gegen meine Knöchel. Während ich über den gepflasterten Pfad laufe, sehe ich, dass Alice ganz nah vor Henry steht. An ihrer Haltung ist nichts Auffälliges festzustellen, und einen Moment lang glaube ich, ich hätte mich geirrt. Sie scheinen lediglich miteinander zu reden.
    Aber dann öffnet sich der Himmel mit einem donnernden Krachen und der Regen strömt hernieder. In Sekundenschnelle klebt mein Haar an meinem Kopf und meine nassen Röcke werden immer schwerer und lästiger. Und trotzdem bleiben Henry und Alice am Flussufer, als ob die Sonne aus einem wolkenlosen Himmel scheinen würde. Sie rühren sich nicht und scheinen das Unwetter, das sie genauso wie mich durchnässt, gar nicht zu bemerken.
Jetzt weiß ich, dass ich mich nicht geirrt habe, und beschleunige meine Schritte.
    Sie befinden sich nicht auf der Terrasse, sondern auf dem erdigen Hang am Flussufer. Zu nah am Fluss, denke ich. Keiner von beiden wendet sich um, als ich sie erreiche, obwohl ihnen meine Anwesenheit unmöglich entgehen kann. Ich keuche und schnappe nach Luft und bleibe keine zwei Meter neben ihnen stehen.
    »Was macht ihr da?«, schreie ich über das ohrenbetäubende Trommeln des Regens hinweg. Aber ich glaube zu wissen, warum Alice Henry hierher gebracht hat.
    Sie antworten nicht sofort. Sie starren einander nur an, als ob außer ihnen beiden nichts und niemand existieren würde.
    Dann sagt Alice schließlich: »Geh weg, Lia. Du hast immer noch die Möglichkeit, dich rauszuhalten. Lass mich mit Henry allein sprechen. Ich werde die Angelegenheit hier und jetzt erledigen.«
    Ich schaue Henry an, schaue ihn zum ersten Mal richtig an - und spüre brennenden Zorn in mir aufwallen. Er sitzt in seinem Stuhl und scheint mir kleiner als je zuvor, als ob der Regen ihn geschrumpft hätte, sodass er aussieht wie die streunende Katze, die wir einmal in der Wanne hinter den Ställen baden wollten. Seine Zähne klappern vor Kälte. Er trägt nicht einmal einen Mantel.
    »Das ist genauso meine Angelegenheit wie deine, Alice. Du solltest dich schämen, dass du Henry in diesem Regen sitzen lässt.« Ich gehe auf ihn zu, will ihn in die Wärme und
Sicherheit des Hauses zurückbringen. Alles andere können wir später klären.
    Aber Alice verstellt mir den Weg. »Henry wird nirgends hingehen, Lia. Noch nicht. Nicht, ehe er mir die Liste gegeben hat.«
    Ich will, dass er es abstreitet. Ich will, dass er widerspricht, dass er irgendetwas sagt, was ihm die Qual ersparen würde, hier zwischen mir und Alice stehen zu müssen, weil er etwas besitzt, das wir beide mehr als alles auf der Welt haben wollen. Aber das sind nicht seine Worte.
    »Sie wollte sie wegnehmen, Lia. Ich habe gesehen, wie sie danach suchte. Es ist meine Aufgabe, dich zu beschützen. Vater hat mir das gesagt.«
    »Vater… ist… tot, Henry!«, schreit Alice in den Wind und hebt die Arme. »Es gibt niemanden, dem du noch gehorchen musst. Niemanden außer Lia und mir. Und du kannst sie retten , Henry. Du kannst sie auf immer und ewig retten, indem du mir die Liste gibst .« Ihre Stimme hallt von einer neuen

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